Es war die höchste Zeit! Im Scheine der Abenddämmerung sah man die Wölfe auf die Belle-Roulotte eindringen und bis zu den Fenstern emporspringen.
»Was werden wir ohne Gespann anfangen?«.« sagte Cornelia unwillkürlich.
»Entledigen wir uns vorerst dieser Bande!« antwortete Herr Sergius.
»Beim Teufel, wir werden schon mit ihnen fertig werden!« rief Herr Cascabel.
»Jawohl. wenn sie nicht allzu zahlreich sind!« meinte Ortik.
»Und wenn uns die Munition nicht ausgeht!« fügte Kirschef hinzu.
»Einstweilen Feuer!« rief Herr Sergius.
Und nun begannen Flinten und Revolver durch die halb geöffneten Fenster das Werk der Vernichtung. Beim Aufleuchten der zu beiden Seiten und im Fond des Wagens knallenden Schüsse sah man bereits an die zwanzig Wölfe tot oder schwer verwundet auf der Erde liegen.
Aber nichts hemmte die Wut dieser Raubtiere und ihre Zahl schien fortwährend zu wachsen. Mehrere Hundert füllten jetzt die Lichtung mit beweglichen Schatten.
Etwelche von ihnen krochen unter den Wagen und versuchten die Bretter des Fußbodens mit ihren Pfoten herauszureißen. Andere sprangen auf den Kutschersitz und drohten die vordere Thür einzustoßen, die man tüchtig verbarrikadieren mußte. Einige liefen sogar auf die obere
Galerie, bogen sich bis an die Fenster herab, schlugen mit den Pfoten darauf und verschwanden erst, wenn ein Schuß sie zu Boden streckte.
Die sehr erschrockene Napoleone schrie vor Angst. Die Furcht vor Wölfen, die bei Kindern so intensiv zu sein pflegt, war hier nur allzu gerechtfertigt. Kayette, welche ihre Kaltblütigkeit bewahrt hatte, versuchte vergeblich das kleine Mädchen zu beruhigen. Man muß gestehen, daß auch Frau Cascabel dem Ausgang des Kampfes nicht sehr zuversichtlich entgegensah.
In der That, wenn das sich in die Länge zog, so wurde die Situation immer gefährlicher. Wie sollte die Belle-Roulotte dem Angriff dieser Unmasse von Wölfen standhalten?. Und wenn sie umgeworfen wurde, so war das Verderben aller jener unausbleiblich, welche darin Schutz gefunden hatten.
Die Sache dauerte schon ungefähr eine halbe Stunde, als Kirschef rief:
»Die Munition geht zu Ende!«
Einige zwanzig Patronen waren alles, was noch zum Laden der Flinten und Revolver übrig blieb.
»Schießen wir nur mehr, wo wir die Gewißheit haben zu treffen!« sagte Herr Cascabel.
Zu treffen?. Als ob inmitten dieser Masse von Angreifern nicht alle Schüsse getroffen hätten! Aber die Wölfe waren zahlreicher als die Kugeln; sie erneuerten sich unaufhörlich, während die Feuerwaffen bald zum Schweigen verurteilt sein würden. Was thun?. Den Tag abwarten?. Und wenn nun der Tag die Bande nicht in die Flucht schlug?.
Da rief Herr Cascabel, indem er seinen nutzlos werdenden Revolver schwenkte:
»Ich habe einen Einfall!«
»Einen Einfall?.« wiederholte Herr Sergius.
»Jawohl. und einen guten dazu!. Wir müssen nur einen oder zwei von jenen Lumpen einfangen!«
»Wie machen wir das?.« fragte Cornelia.
»Wir werden die Thür ein wenig öffnen und die zwei ersten, welche sich hereindrängen, ergreifen.«
»Das wollen Sie, Cascabel?«
»Was riskieren wir, Herr Sergius? Einige Bisse?. Pah! ich will lieber gebissen als zerrissen werden!«
»Gut!. Thun wir's, aber thun wir's schnell!« antwortete Herr Sergius, der nicht recht wußte, wo Herr Cascabel hinaus wollte.
Dieser ging, von Ortik, Clou und Kirschef gefolgt, in die erste Abteilung, während Jean und Xander die Hunde im Hintergrunde der letzten zurückhielten, wo sich auch die Frauen befanden.
Die Möbel, welche die Thür verbarrikadierten, wurden weggeräumt und Herr Cascabel öffnete dieselbe so, daß er sie schnell wieder schließen konnte.
In diesem Augenblick belagerte ein Dutzend Wölfe, auf dem Kutschersitz und den beiden Trittbrettern zusammengedrängt, die vordere Wagenwand.
Sowie die Thür nachgab, flog einer der Wölfe ins Innere und Kirschef warf dieselbe wieder ins Schloß. Herr Cascabel und Ortik stürzten sich auf das Tier und es gelang ihnen, ihm ein bereit gehaltenes Stück Leinwand über den Kopf zu werfen und fest um den Hals zu binden.
Wieder öffnete sich die Thür. Ein zweiter Wolf zwängte sich herein und erfuhr dieselbe Behandlung wie der erste. Es kostete Clou, Ortik und Kirschef keine geringe Mühe, die starken und wütenden Bestien zu halten.
»Vor allen Dingen, tötet sie nicht,« rief Herr Cascabel, »und haltet sie fest!«
Sie nicht töten?. Was wollte er denn damit machen?. Sie seiner Truppe für den Permer Jahrmarkt einverleiben?.
Was er damit wollte, was er damit that, das erfuhren seine Gefährten allsogleich.
Eine Flamme schlug in der Abteilung auf, welche von Geheul und Schmerzenslauten widerhallte. Dann wurde die Thür geöffnet und schloß sich von neuem hinter den beiden hinausgeschleuderten Wölfen.
Welch eine Wirkung ihr Erscheinen inmitten des Rudels hervorbrachte! Man konnte das um so besser wahrnehmen, als die Lichtung sich mit beweglichem Feuerschein füllte.
Die beiden Wölfe waren mit Petroleum übergossen worden, welches Herr Cascabel angezündet hatte, und in diesem Zustande rasten sie unter den Angreifern umher.
Nun! er war vortrefflich, der Einfall des Herrn Cascabel, wie alles, was das Hirn dieses wunderbaren Mannes erzeugte. Die Wölfe flohen entsetzt vor den beiden flammenden Tieren. Und welch ein Geheul sie ausstießen, - viel gräßlicher als das, welches man seit dem Beginn des Angriffs vernommen hatte! Umsonst suchten die beiden Petrolierten, durch ihre Leinwandkapuze geblendet, ihren brennenden Pelz zu löschen! Umsonst wälzten sie sich auf der Erde und schnellten zwischen den übrigen Raubtieren empor, sie brannten noch immer!
Endlich floh die ganze Bande, von Panik ergriffen, aus der Umgebung der Belle-Roulotte und verschwand in den Tiefen des Forstes.
Bald verhallte das Heulen und es wurde still im Lager.
Vorsichtshalber empfahl Herr Sergius, das erste Tagesdämmern abzuwarten, bevor man auf Kundschaft ausginge. Aber er und seine Gefährten hatten keinen neuen Angriff zu fürchten. Der Feind war zersprengt. Er floh unaufhaltsam.
»Ah!. Cäsar!.« rief Cornelia, in die Arme ihres Mannes eilend.
»Ah! mein Freund!.« sagte Herr Sergius. »Ah! Vater!.« riefen die Kinder. »Ah! Herr Direktor!.« seufzte Clou.
»Nun!. Was denn?. Was habt ihr?.« antwortete Herr Cascabel ruhig. »Wenn man nicht schlauer als solche Tiere wäre, so wäre es ja nicht der Mühe wert, ein Mensch zu sein!«
Die Uralkette lohnt den Besuch von Touristen in mindestens ebenso hohem Grade wie die Pyrenäen und die Alpen. Das Wort »Ural« bedeutet auf Tatarisch »Gürtel«, und es ist auch wirklich ein Gürtel, der sich vom Kaspisee bis ans Eismeer in einer Ausdehnung von zweitausendneunhundert Kilometern hinzieht, - ein mit Edelsteinen und kostbaren Metallen, Gold, Silber, Platina geschmückter Gürtel - ein Gürtel, welcher den alten Kontinent in der Mitte, an der Grenze zwischen Asien und Europa, umspannt. Ein ungeheures Bergsystem, speist er mit seinen Gewässern und den im Frühjahr schmelzenden Schneemassen den Ural, die Kara, die Petschora, die Kama und zahlreiche Nebenflüsse. Eine herrliche Schranke aus Granit und Quarz, reckt er seine Spitzen und Risse in einer Durchschnittshöhe von zweitausenddreihundert Metern über dem Meeresspiegel empor.
»Das kann man wirklich eine Rutschbahn nennen!« meinte Herr Cascabel gutgelaunt. »Nur rutscht sich's hier nicht von selber, wie bei der Porte Maillot oder auf der Kirmeß von Neuilly!«
In der That »rutschte es sich hier nicht von selber!«
Auch würde es beim Übersteigen des Höhenzuges schwer sein, die »Zavodys« zu umgehen, jene zahlreichen Dörfer, deren Bevölkerung noch von den alten, zur Ausbeutung der Minen verwendeten Arbeitern abstammt.
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