Indessen kam man auf diesen gebirgigen Gebieten nicht rasch vorwärts. Die Reise verzögerte sich durch unvermeidliche Umwege. Überdies hatte die letzte Kälte des Winters ihre volle Schärfe bewahrt, obgleich diese Gegend unter dem achtunddreißigsten Breitegrad liegt, demselben, der in Europa Sizilien und Spanien durchschneidet. Bekanntlich ist das Klima Nordamerikas infolge der Entfernung des Golfstromes - jener warmen Strömung, die sich nach ihrem Austritte aus dem Golf von Mexiko in schräger Richtung gegen Europa hinzieht - unter derselben Breite ungleich kälter, als das des alten Festlandes. Aber noch einige Wochen und Kalifornien würde wieder jenes vor allen anderen freigebige Land, jene fruchtreiche Mutter geworden sein, wo jedes Getreidekorn sich verhundertfacht, wo die verschiedenartigsten Produkte der tropischen und der gemäßigten Zone, Zuckerrohr, Reis, Tabak, Orangen, Oliven, Citronen, Ananas und Bananen sich im Überflusse vereinen.
Es ist nicht das Gold, welches den Reichtum des kalifornischen Bodens bildet, sondern die aus ihm emporsprießende außerordentliche Vegetation.
»Wir werden uns nach diesem Lande zurücksehnen,« sagte Cornelia, die nicht gleichgültig gegen Küchenfreuden war.
»Näscherin!« versetzte Herr Cascabel.
»O, es ist nicht meinetwegen, sondern der Kinder wegen!«
Mehrere Tage zogen sie längs der Wälder durch die grünenden Prairien dahin. So zahlreich auch die sich davon nährenden Wiederkäuer sein mochten, es gelang ihnen nicht, den Grasteppich abzunützen, den die Natur dort unaufhörlich erneut. Man kann die vegetabilische Kraft jenes kalifornischen Gebietes nicht genug betonen, welchem kein anderes vergleichbar ist. Es ist die Kornkammer des Stillen Oceans, und die Handelsflotten, die seine Produkte exportieren, vermögen es nicht zu erschöpfen. Die »Belle-Roulotte« hielt ihre gewohnte Fahrgeschwindigkeit inne, durchschnittlich sechs bis sieben Meilen pro Tag - nicht mehr. In dieser Weise hatte sie ihr Personal bereits in sämtlichen Bundesstaaten umhergeführt, wo der Name Cascabel von den Mississippimündungen bis Neu-England so vorteilhaft bekannt war. Damals hatte man freilich in jeder Stadt der Union Halt gemacht, um Einnahmen zu erzielen. Jetzt auf dieser Reise von Westen nach Osten, handelte es sich nicht mehr darum, die Bevölkerungen in Erstaunen zu setzen. Diesmal galt es keine artistische Rundreise, sondern die Rückkehr ins alte Europa, mit normännischen Gehöften am Horizont.
Die Fahrt ging so lustig von statten, daß manches feststehende Haus dies rollende um das darin enthaltene Glück beneiden konnte. Man lachte, man sang, man scherzte, und manchmal jagte das Klapphorn, mit dem der junge Xander wohl umzugehen wußte, die Vögel in die Flucht, die ebenso geschwätzig wie diese fröhliche Familie waren.
Das war nun alles recht schön und gut, aber Reisetage brauchen nicht notwendigerweise Ferientage zu sein.
»Kinder,« sagte Herr Cascabel wiederholt, »man darf sich darum doch nicht einrosten lassen!«
Und wenn man Halt machte, um dem Gespann Ruhe zu gönnen, so rastete die Familie nicht. Mehr als einmal eilten die Indianer herbei, um Jean seine Taschenspielerstückchen probieren, Napoleone einige anmutige Pas ausführen, Xander sich wie ein Kautschukwesen verrenken, Herrn Cascabel bauchrednerische Effekte erzielen und Frau Cascabel Kraftübungen anstellen zu sehen, derweil Jako in seinem Käfig plapperte, die Hunde zusammen arbeiteten und John Bull sich in Grimassen erschöpfte.
Bemerken wir indessen, daß Jean seine Studien unterwegs nicht vernachlässigte. Er las wiederholt die wenigen Bücher, aus welchen die Bibliothek der Belle-Roulotte bestand: ein wenig Geographie und Arithmetik und verschiedene Reisebeschreibungen; er führte auch ein »Logbuch«, in welchem er die Zwischenfälle der Navigation in äußerst anziehender Weise aufzeichnete.
»Du wirst zu gelehrt werden!« sagte sein Vater manchmal zu ihm. Aber schließlich, wenn du Geschmack daran findest!.«
Und Herr Cascabel hütete sich, die Instinkte seines Erstgeborenen anzufeinden. Im Grunde waren seine Frau und er sehr stolz darauf, einen »Gelehrten« in der Familie zu haben.
Am Nachmittage des siebenundzwanzigsten Februar langte die »Belle-Roulotte« vor den Engpässen der Sierra Nevada an. Vier bis fünf Tage hindurch würde die schwierige Übersteigung der Bergkette große Anstrengungen verursachen. Es würde eine harte Aufgabe für Menschen und Tiere sein, die Abhänge zu ersteigen. Man würde sich auf den engen, geschlängelten Wegen, welche die Flanken der ungeheuren Schranke umwinden, gegen die Räder stemmen müssen. Obleich das Wetter sich unter den frühzeitigen Einwirkungen des kalifornischen Frühlings fortwährend milder gestaltete, würde das Klima doch auf einer gewissen Höhe noch ziemlich rauh sein. Nichts Furchtbareres als die Regengüsse, die entsetzlichen Schneewehen, die wütenden Windstöße am Eingang der Schluchten, wo der Sturm sich wie in einem Trichter fängt. Überdies ragen die oberen Pässe in die Zone des ewigen Schnees hinein und man muß nicht weniger als zweitausend Meter emporklimmen, bevor man jenseits in das Land der Mormonen hinabsteigen kann.
Übrigens gedachte Herr Cascabel dasjenige zu thun, was er schon früher bei ähnlichen Anlässen gethan: er würde in den Dörfern oder Gehöften des Gebirges Aushilfspferde und Männer, Indianer oder Amerikaner, zu deren Führung mieten. Das würde ohne Zweifel eine Mehrausgabe bilden, aber es war eine Notwendigkeit, wenn die Familie ihr eigenes Gespann nicht dienstunfähig machen wollte.
Am Abend des siebenundzwanzigsten war der Sonora-Paß erreicht. Die bisher durchzogenen Thäler hatten nur unbedeutende Terrainschwierigkeiten geboten und Vermout und Gladiator hatten dieselben denn auch ohne allzu große Anstrengungen überwunden; aber der gegenwärtigen Aufgabe wären sie nicht einmal unter Mithilfe des ganzen Personals gewachsen gewesen.
In kurzer Entfernung von einem in den Schluchten der Sierra versteckten Dörfchen wurde Halt gemacht. Es bestand nur aus wenigen Häusern und einem auf doppelte Schußweite gelegenen Gehöfte, in welches Herr Cascabel noch denselben Abend zu gehen beschloß. Er wollte für den folgenden Tag Vorspann bestellen, welcher Vermout und Gladiator willkommen sein würde.
Vor allem mußte man Vorkehrungen treffen, um die Nacht an dieser Stelle zu verbringen.
Sobald das Lager gewohnheitsgemäß organisiert worden, setzte man sich mit den Einwohnern des Dörfchens in Verbindung, welche gern bereit waren, Menschen und Tiere mit frischer Nahrung zu versehen.
An jenem Abend war keine Rede vom »Repetieren« der Übungen. Alle waren am Ende ihrer Kräfte nach dem schweren Tage, denn man hatte einen großen Teil des Weges zu Fuß zurücklegen müssen, um das Gespann zu schonen. Herr Cascabel gestattete denn auch eine vollständige Ruhe, welche auf den ganzen Nevada-Übergang ausgedehnt werden sollte.
Nachdem Herr Cascabel das Lager mit Herrscherblick gemustert, ließ er die Belle-Roulotte in der Obhut seiner Frau und Kinder zurück und schlug, von Clou begleitet, den Weg zu dem Gehöfte ein, dessen Schornsteine man durch die Bäume hindurch rauchen sah.
Jenes Gehöft war von einem Kalifornier und dessen Familie bewohnt, die den Gaukler gut aufnahmen. Der Landwirt verpflichtete sich, ihm am folgenden Tage drei Pferde und zwei Führer zur Verfügung zu stellen. Letztere sollten die Belle-Roulotte an die Stelle geleiten, wo die Abhänge sich gegen Osten zur Ebene hinabsenken; von dort würden sie mit dem Vorspann zurückkehren. Nur würde das einen hübschen Preis kosten.
Herr Cascabel erörterte diesen Preis als ein Mann, der sein Geld nicht zum Fenster hinauszuwerfen wünscht, und verstand sich schließlich zu einer Summe, welche den für diesen Teil der Reise bestimmten Kredit nicht überstieg.
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