Die Zeit verrann unter immerwährender Todesangst, da das Meer sie jeden Augenblick verschlingen konnte. Dann erschienen die bleichen Schimmer des Tages wieder, und fast gleichzeitig stießen sie an das Eisfeld. Jean und Kayette wagten sich auf die ungeheure Eisfläche; sie schritten lange vorwärts, bis sie die Kotelnii-Insel erreichten und den Eingeborenen in die Hände fielen.
»Und du sagst, Jean,« fragte Herr Sergius, »daß sie hier noch andere Schiffbrüchige gefangen halten?«
»Ja, Herr Sergius,« antwortete Jean.
»Ihr habt sie gesehen?«
»Nein, Herr Sergius,« erwiderte Kayette, »aber ich verstand die Eingeborenen, da sie russisch sprechen, und sie erwähnten zweier Matrosen, die in ihrem Dorfe zurückgehalten werden.«
In der That ist das Idiom der nordsibirischen Stämme das Russische, und so würde Herr Sergius sich mit den Liakhoff-Insulanern verständigen können. Aber was stand von diesen Räubern zu hoffen, die, aus den ziemlich volkreichen Provinzen an den Flußmündungen verdrängt, sich auf die neusibirischen Inseln zurückgezogen haben, wo die moskowitische Verwaltung keine Macht über sie besitzt.
Herr Cascabel war ganz außer sich seit seiner Gefangennehmung. Er sagte sich, nicht ohne Grund, daß die Belle-Roulotte von diesen Schurken entdeckt, geplündert, vielleicht gar zerstört werden würde. In der That, es war kaum der Mühe wert, dem Eisbruch in der Beringstraße zu entrinnen, um diesem »Polargesindel« in den Weg zu laufen!
»Höre, Cäsar,« sagte Cornelia zu ihm; »beruhige dich!. Es hilft nichts, sich aufzuregen!. Schließlich hätte uns noch Ärgeres begegnen können!«
»Ärgeres. Cornelia?«
»Ohne Zweifel, Cäsar! Was würdest du sagen, wenn wir Jean und Kayette nicht wiedergefunden hätten? Nun, sie sind beide hier, und wir sind alle, alle am Leben!. Denke an die Gefahren, denen wir ausgesetzt waren und denen wir entronnen sind. es ist ja ein Wunder!. So denke ich denn, statt mit der Vorsehung zu hadern, solltest du ihr danken.«
»Ich danke ihr auch, Cornelia, ich danke ihr aus dem Grunde meines Herzens! Aber darum wird es mir doch wohl gestattet sein, dem Teufel zu fluchen, der uns jenen Lumpen in die Hände gespielt hat!. Sie sehen ja mehr wie Tiere als wie Menschen aus!«
Und Herr Cascabel hatte recht, aber Cornelia hatte darum nicht unrecht. Von den Inwohnern der Belle-Roulette fehlte keiner. Genau so, wie sie Port-Clarence verlassen hatten, sahen sie sich jetzt im Dorfe Turkef beisammen.
»Jawohl. in einem Iltis- oder Maulwurfsloche!« murmelte Herr Cascabel. »Eine Grube, welche ein einigermaßen wohlgeleckter Bär um keinen Preis zur Höhle haben möchte!«
»Ach. aber Clou?« schrie Xander auf.
In der That, was war aus dem wackeren Burschen geworden? Man hatte ihn zum Schutze der Belle-Roulotte zurückgelassen. Hatte er das Eigentum seines Herrn mit Lebensgefahr zu verteidigen gesucht?. Befand er sich jetzt in der Gewalt der Wilden?
Nun Xander seine Familie an Clou-de-Girofle erinnert hatte, sagte Cornelia:
»Und Jako!.«
»Und John Bull!.« sagte Napoleone.
»Und unsere Hunde!« fügte Jean hinzu.
Selbstverständlich galt ihre Besorgnis vor allen Clou-de-Girofle. Der Affe, der Papagei, Wagram und Marengo kamen erst in zweiter Reihe.
In diesem Augenblick erscholl draußen Lärm. Es war ein Durcheinander von Flüchen und Hundegebell. Gleich darauf wurde der Verschluß der Höhle heftig aufgerissen. Herein stürzten Wagram und Marengo und hinter ihnen erschien Clou-de-Girofle.
»Da bin ich, Herr Direktor,« schrie der arme Teufel, »wenn es nicht etwa jemand anderes ist. denn ich weiß gar nicht mehr, woran ich bin!«
»Du bist genau ebenso daran wie wir,« antwortete Herr Cascabel, ihm die Hand drückend.
»Und die Belle-Roulotte?« fragte Cornelia lebhaft.
»Die Belle-Roulotte?.« antwortete Clou. »Ei nun, diese Gentlemen haben sie unterm Schnee entdeckt, sich wie Tiere davor gespannt und sie in ihr Dorf gezogen.«
»Und Jako?« sagte Cornelia.
»Jako ebenfalls.«
»Und John Bull?.« fiel Napoleone ein.
»John Bull desgleichen!«
Schließlich, wenn die Familie Cascabel in Turkef zurückgehalten wurde, so war es besser, daß auch das rollende Haus sich dort befinde, wenngleich es von Plünderung bedroht war.
Indessen begann der Hunger sich fühlbar zu machen, und die Eingeborenen schienen sich nicht um die Ernährung ihrer Gefangenen zu kümmern. Zum großen Glücke hatte der umsichtige Clou die Vorsicht gehabt, seine Taschen mit Lebensmitteln zu versehen. Er zog einige Büchsen mit Konserven hervor, welche vorderhand hinreichen würden. Dann rollten sich alle in ihre Pelze und schliefen so gut es ging in einer Atmosphäre, welche der Rauch des Herdfeuers fast unatembar machte.
Am nächsten Morgen - fünften Dezember - wurden Herr Sergius und seine Gefährten aus ihrem Gelasse hervorgezogen; es war ihnen eine unaussprechliche Erleichterung, sich in frischer Luft zu befinden, wenngleich die Kälte äußerst streng war.
Man führte sie vor den Häuptling.
Dieser Potentat, ein Mann von listiger und nicht eben anziehender Physiognomie, hatte eine Art unterirdischer Wohnung inne, welche geräumiger und bequemer als die Erdnester seiner Unterthanen war. Diese Hütte war in den Fuß eines großen, felsigen Hügels gegraben, der in Schnee gehüllt war und dessen Gipfel ziemlich genau dem Kopfe eines Bären glich.
Tschu-Tschuk mochte etwa fünfzig Jahre zählen. Sein glattes, von kleinen, funkelnden Äuglein erhelltes Gesicht bekam durch die scharfen Fangzähne, die seine Lippe hinauszogen, etwas sozusagen tierisches. Auf einem Pelzhaufen sitzend, in Renntierfell gekleidet, Stiefel aus
Seehundsleder an den Füßen und eine Pelzmütze auf dem Kopfe, wiegte er sich langsam hin und her.
»Sieht der wie ein alter Gauner aus!« murmelte Herr Cascabel.
Zu seinen Seiten standen zwei, drei Vornehme des Stammes. Draußen harrten etwa fünfzig Eingeborene, die ungefähr ebenso wie ihr Häuptling gekleidet waren und deren Geschlecht in der einförmigen Tracht der neusibirischen Männer und Frauen nicht zu unterscheiden war.
Tschu-Tschuk wandte sich zuerst zu Herrn Sergius, dessen Nationalität er zweifelsohne erraten hatte und fragte ihn in sehr verständlichem Russisch:
»Wer bist du?«
»Ein Unterthan des Zars,« antwortete Herr Sergius in der Hoffnung, daß dieser kaiserliche Titel vielleicht Eindruck auf den Inselherrscher machen werde.
»Und diese da?« fuhr Tschu-Tschuk fort, auf die Mitglieder der Familie Cascabel deutend.
»Franzosen!« antwortete Herr Sergius.
»Franzosen?.« wiederholte der Häuptling.
Und es schien, daß er nie etwas von einem Volke oder einem Stamme dieses Namens gehört habe.
»Nun ja!. Franzosen. Franzosen. aus Frankreich, Canaille!« rief Herr Cascabel.
Aber er sagte das in seiner eigenen Sprache und mit der Freimütigkeit eines Mannes, welcher die Gewißheit hat, nicht verstanden zu werden.
»Und jene dort?« fragte Tschu-Tschuk, auf Kayette deutend, denn es war ihm nicht entgangen, daß das junge Mädchen von fremdartiger Rasse sein müsse.
»Eine Indianerin,« antwortete Herr Sergius.
Und nun entwickelte sich ein ziemlich lebhaftes Gespräch zwischen Tschu-Tschuk und ihm - ein Gespräch, dessen Hauptinhalt Herr Sergius der Familie Cascabel verdolmetschte.
Schließlich ergab sich aus diesem Gespräche, daß die Schiffbrüchigen sich als Gefangene zu betrachten hätten und solange auf der Kotelnii-Insel bleiben müßten, bis sie ein Lösegeld von dreitausend Rubel in guter russischer Münze erlegten.
»Und wo will er, daß wir die hernehmen, dieser Polarbär?« rief Herr Cascabel. »Die Lumpen haben sicher alles gestohlen, was noch von Ihrem Gelde übrig war, Herr Sergius!.«
Tschu-Tschuk gab ein Zeichen und die Gefangenen wurden hinausgeführt. Man gestattete ihnen, frei im Dorfe umherzugehen, unter der Bedingung, daß sie sich nicht daraus entfernen würden; und sie gewahrten vom ersten Tage an, daß man sie sorgfältig bewachte. Übrigens wäre es ihnen um diese Jahres, zeit, im tiefsten Winter, sowieso unmöglich gewesen, sich auf das Festland hinüber zu flüchten.
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