Endlich wurde das Zeichen zum Aufbruch gegeben und im selben Augenblick erschollen die Hurra-Rufe der Bevölkerung von Port-Clarence.
Gleich darauf knirschten die Räder der Belle-Roulotte auf der Schneedecke des Eisfeldes.
Herr Sergius und die Familie Cascabel hatten den amerikanischen Boden für immer verlassen.
Er bildet eine ziemlich enge Durchfahrt, dieser Beringkanal, welcher das gleichnamige Meer mit dem Polarmeere verbindet. Dem zwischen La Manche und der Nordsee gelegenen Pas-deCalais ähnelnd, besitzt er eine dreimal so große Ausdehnung als dieser; denn während die Entfernung vom Kap Gris-Nez an der französischen bis zum South-Foreland an der englischen Küste höchstens sechs bis sieben Meilen beträgt, trennen cirka zwanzig Meilen Port-Clarence von Numana.
Und diesem Numana, als dem nächstgelegenen Punkte an der asiatischen Küste, strebte die Belle-Roulotte zu, nachdem sie ihren letzten Aufenthalt' in Amerika verlassen hatte.
Ohne Zweifel würde eine das Beringmeer schräg durchschneidende Reiseroute Cäsar Cascabel gestattet haben, unter einem wesentlich südlich vom Polarkreise gelegenen Breitegrade zu reisen. In diesem Falle würde man in südwestlicher Richtung bis zur St. Laurentius-Insel vorgedrungen sein - einer ziemlich bedeutenden Insel, deren aus zahlreichen Eskimostämmen bestehende Bevölkerung nicht weniger gastfreundlich ist wie die Einwohner von Port-Clarence. Jenseits des Golfes von Anadir wäre die kleine Truppe dann beim Kap Navarin ans Land gestiegen, um ihr Heil in den Gebieten Südsibiriens zu versuchen. Aber dadurch würde man den auf dem Meere, oder vielmehr auf jenem Eisfeld zurückzulegenden Teil der Reise verlängert und sich somit den auf Eisfeldern drohenden Gefahren länger ausgesetzt haben. Begreiflicherweise hatte die Familie Cascabel Eile, auf festen Boden zu gelangen. Es schien daher geboten, keinerlei Abänderungen des ursprünglichen Planes vorzunehmen, sondern über die inmitten der Meerenge gelegene Insel Diomedes, die auf ihrer felsigen Basis keinem Punkte des Festlandes an Solidität nachsteht, nach Numana zu reisen.
Hätte Herrn Sergius ein Schiff zur Beförderung der kleinen Karawane zur Verfügung gestanden, so hätte er eine andere Reiseroute gewählt. Er würde das Fahrzeug nach der Beringinsel, einem südlicher gelegenen, sehr beliebten Überwinterungsorte der Seehunde und anderer Säugetiere des Meeres, und von dort nach irgend einer Hafenstadt Kamtschatkas, vielleicht gar nach Petropawlowsk, der Hauptstadt dieses Gouvernements, gelenkt haben. Aber in Ermangelung eines Schiffes mußte man den kürzesten Weg wählen, um das asiatische Festland je eher zu betreten.
Die Beringstraße ist nirgends sehr tief. Infolge der seit der Eisperiode konstatierbaren Anschwemmungen wäre es sogar möglich, daß sich in sehr ferner Zukunft eine Vereinigung Asiens und Amerikas an diesem Punkte vollzöge. Das wäre dann die von Herrn Cascabel geträumte Brücke, oder, genauer gesagt, ein den Reisenden zugänglicher Dammweg. Aber wenn auch nützlich für letztere, wäre er doch den Schiffern und besonders den Walfischfängern sehr unbequem, da er ihnen die Einfahrt ins Polarmeer wehren würde. So müßte dann schließlich ein neuer Lesseps kommen, um diesen Isthmus zu durchschneiden und den ursprünglichen Stand der Dinge wieder herzustellen. Die Erben unserer Urenkel werden sich mit dieser Eventualität zu befassen haben.
Auf Grund der an verschiedenen Punkten der Meerenge vorgenommenen Messungen konstatierten die Hydrographen, daß man längs der asiatischen Küste, in der Nähe der
Tschuktschen-Halbinsel, im Bereiche der von Norden kommenden kalten Strömung, das tiefste Fahrwasser findet, während die warme Strömung durch die minder tiefe Durchfahrt an der amerikanischen Küste aufwärts fließt.
Im Norden dieser Halbinsel, bei der Koliutschin-Insel, in der gleichnamigen Bai, sollte zwölf Jahre später Nordenskjölds Schiff, die »Vega,« nachdem er die nordöstliche Durchfahrt entdeckt, während eines Zeitraumes von neun Monaten, vom sechsundzwanzigsten September 1878 bis zum fünfzehnten Juli 1879, im Eise gefangen liegen.
Die Familie Cascabel war also am einundzwanzigsten Oktober bei recht gutem Befinden aufgebrochen. Es herrschte strenge trockene Kälte. Der Schneefall hatte aufgehört; der schwächer werdende Wind blies aus Norden. Der Himmel war in mattes, einförmiges Grau gehüllt. Man ahnte die Sonne kaum hinter jenen Nebelschleiern, welche die infolge ihrer Schrägheit sehr geschwächten Strahlen nicht zu durchbrechen vermochten. Mittags, auf dem höchsten Punkte ihres Laufes, stand sie nur um drei bis vier Grade über dem südlichen Horizonte.
Vor der Abreise von Port-Clarence hatte man sich einstimmig für eine sehr vernünftige Maßregel entschieden: man würde nicht im Dunkeln fahren. Das Eisfeld zeigte hie und da große Risse, welche, wenn man sie nicht sah und vermied, irgend eine Katastrophe herbeiführen konnten. Man war übereingekommen, Halt zu machen, sobald der Gesichtskreis auf hundert Schritte weit beschränkt erschien. Besser, die zwanzig Meilen der Meerenge in fünfzehn Tagen zurückzulegen, als bei ungenügender Beleuchtung blindlings vorwärts zu streben.
Der Schnee, der vierundzwanzig Stunden lang gefallen war und einen ganz dicken Teppich bildete, hatte sich unter der Einwirkung der Kälte krystallisiert. Diese Schicht erleichterte die Bewegung auf der Oberfläche des Eisfeldes. Wenn nicht etwa ein neuer Schneefall eintrat, würde der Übergang keine Schwierigkeiten bieten. Indessen stand zu befürchten, daß dort, wo die beiden in entgegengesetzter Richtung fließenden Strömungen einander begegneten, die während des Eistreibens zusammengestoßenen Eisschollen sich übereinander getürmt haben und die Reise durch zahlreiche Umwege verlängern würden.
Wie bereits erwähnt, hatten Cornelia, Kayette und Napoleone im Wagen Platz genommen. Um ihn möglichst wenig zu belasten, sollten die Männer ihn zu Fuß begleiten.
Der festgestellten Marschordnung gemäß war Jean als Vorhut mit der Rekognoscierung des Eisfeldes betraut; man durfte sich auf ihn verlassen. Er war mit einem Kompaß versehen und obgleich er dabei nicht sehr genau verfahren konnte, hielt er die westliche Richtung doch präcis genug ein.
Clou hielt sich bei den Pferden, bereit, Vermout und Gladiator beizuspringen, falls sie straucheln sollten, wovor sie übrigens auch der scharfe Beschlag ihrer Hufeisen und die absolute Ebenheit der Eisfläche schützte.
Neben dem Wagen schritten Herr Sergius und Cäsar Cascabel, mit Brillen versehen und gleich ihren Gefährten wohl vermummt, plaudernd einher.
Was den jungen Xander betrifft, so wäre es keine leichte Sache gewesen, ihm einen Platz anzuweisen, oder vielmehr, ihn zum Ausharren darauf zu bestimmen. Er ging und kam, lief und sprang wie die beiden Hunde, und gestattete sich sogar das Vergnügen langer Schleifpartieen. Indessen erlaubte sein Vater ihm nicht, die Eskimo-Schneeschuhe anzulegen, was ihn arg verdroß.
»Mit jenen Schlittschuhen,« sagte er, »könnte man in einigen Stunden über die Meerenge gelangen!«
»Was hilft uns das,« antwortete Cascabel, »da unsere Pferde sich nicht aufs Schlittschuhlaufen verstehen!«
»Ich werde sie's lehren müssen!« meinte der Junge, indem er einen Purzelbaum schlug.
Unterdessen waren Cornelia, Kayette und Napoleone in der Küche beschäftigt und ein leichter, vielverheißender Rauch stieg aus dem kleinen Ofenrohr in die Luft. Wenn sie im Innern der hermetisch verschlossenen Abteilungen nicht von der Kälte litten, so mußten sie um so sorglicher an die draußen Befindlichen denken. Das thaten sie denn auch, indem sie stets einige Schalen heißen Thees mit einem Zusatze von Wodka, jenem russischen Branntwein, der einen Toten neubeleben würde, bereit hielten.
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