Demzufolge sah die Familie Cascabel einige Tage nach ihrer Abreise die regellosen Umrisse der Küste mit den hohen Gipfeln des Schönwetter- und des Elias-Berges im Südwesten verschwinden.
Die sorgfältig geregelten Marsch- und Raststunden wurden streng eingehalten. Man hatte keinen Grund zur Eile und es war besser, piano zu gehen, um sano zu gehen. Die Hauptsache war, die beiden Pferde zu schonen, die nur durch ein Renntiergespann ersetzt werden konnten, falls man sie verlöre, - eine Eventualität, der man um jeden Preis ausweichen mußte. So brach man denn jeden Morgen gegen sechs Uhr auf, machte mittags zwei Stunden lang Halt, und fuhr bis sechs Uhr abends weiter, um dann die ganze Nacht hindurch zu rasten. Auf diese Weise legte man durchschnittlich fünf bis sechs Meilen pro Tag zurück.
Wenn man übrigens Eile gehabt hätte, so wäre nichts leichter gewesen, als bei Nacht zu fahren, denn die Sonne von Alaska war, wie Herr Cascabel bemerkte, durchaus nicht träge.
»Kaum ist sie untergegangen, so geht sie schon wieder auf!« sagte er. »Dreiundzwanzig Stunden Beleuchtung und sie wird darum nicht besser bezahlt als anderswo!«
In der That sank die Sonne in dieser Epoche, nämlich zur Zeit der Sommersonnenwende, und in dieser hohen Zone, um elf Uhr siebzehn Minuten abends, und ging um elf Uhr neunundvierzig Minuten wieder auf, so daß sie nur zweiunddreißig Minuten lang hinter dem Horizonte verschwunden blieb, und die auf ihren Untergang folgende Abenddämmerung ohne Unterbrechung in den neuen Morgenschein hinüberfloß.
Was die Temperatur betrifft, so war sie heiß und manchmal sogar erstickend schwül. Unter diesen Umständen wäre es mehr als unvernünftig gewesen, nicht während der glühenden Mittagsstunden Rast zu halten. Menschen und Tiere litten sehr empfindlich von dieser außerordentlichen Hitze. Wer würde glauben, daß das Thermometer an der Grenze des Polarkreises manchmal auf dreißig Grad Celsius über Null steigt? Und dennoch ist dem so.
Obgleich die Reise sicher und ohne große Schwierigkeiten von statten ging, klagte die von der unaus stehlichen Hitze arg mitgenommene Cornelia, und nicht ohne Grund.
»Sie werden sich bald nach dem sehnen, was Ihnen jetzt so schwer zu ertragen scheint!« sagte Herr Sergius eines Tages zu ihr.
»Nach einer solchen Hitze?, niemals!« rief sie aus.
»In der That, Mutter,« bestätigte Jean. »Jenseits der Beringstraße, in den sibirischen Steppen, wirst du noch ganz anders von der Kälte leiden!«
»Einverstanden, Herr Sergius,« antwortete Herr Cascabel. »Aber während man sich der Hitze nicht erwehren kann, ist es doch wenigstens möglich, sich mit Hilfe des Feuers vor der Kälte zu schützen.«
»Allerdings, mein Freund,« erwiderte Herr Sergius, »und das werden Sie auch in einigen Monaten thun müssen, denn die Kälte wird schrecklich sein, vergessen Sie das nicht!«
Nachdem die Belle-Roulotte sich durch die »Canons,« enge, kapriziös zwischen die mittelhohen Berge eingezwängte Schluchten, hindurchgewunden, sah sie am dritten Juli nur mehr weite Ebenen mit spärlichen Wäldern vor sich.
An jenem Tage fuhr sie an einem kleinen See, dem Dease-See entlang, welchem der Lewis-Rio, einer der bedeutendsten Nebenflüsse des unteren Youkon, entsprang. Kayette erkannte denselben.
»Ja,« sagte sie. »Das ist der Cargu, der sich in unseren großen Fluß ergießt!«
Und sie erklärte Jean, daß »Cargu« in alaskischer Sprache wörtlich »kleiner Fluß« bedeute.
Aber vernachlässigten es die Künstler der Cascabelschen Truppe während dieser Reise ohne Hindernisse und Anstrengungen ihre Übungen zu wiederholen, sich die Kraft ihrer Muskeln, die Geschmeidigkeit ihrer Glieder, die Geschicklichkeit ihrer Hände zu erhalten? Gewiß nicht; wenn die Hitze es gestattete, verwandelte der abendliche Rastplatz sich in eine Arena, welche nur Herrn Sergius und Kayette zu Zuschauern hatte. Dann bewunderten beide die Heldenthaten dieser tapferen Familie - die junge Indianerin nicht ohne einiges Erstaunen, Herr Sergius mit Wohlwollen.
Herr und Frau Cascabel übten sich abwechselnd im Heben schwerer Gewichte und im Werfen und Auffangen von Hanteln; Xander erging sich in den Verrenkungen, die seine Spezialität bildeten; Napoleone betrat das zwischen zwei Pfosten aufgespannte Seil und entfaltete ihre Anmut als Tänzerin, während Clou vor einem vermeintlichen Publikum paradierte.
Freilich hätte Jean es vorgezogen, bei seinen Büchern zu bleiben, sich im Geplauder mit Herrn Sergius zu bilden, oder Kayette zu unterrichten, welche unter seiner Leitung sehr schnelle Fortschritte in der französischen Sprache machte; aber der Vater verlangte, daß er nichts von seiner bemerkenswerten Geschicklichkeit als Equilibrist einbüße, und so schnellte er aus Gehorsam seine Gläser, Ringe, Kugeln, Messer und Stäbchen umher, - derweil er an ganz andere Dinge dachte, der arme Junge!
Übrigens empfand er große Befriedigung darüber, daß Herr Cascabel seinen Wunsch aufgeben mußte, Kayette zur Jahrmarktskünstlerin heranzubilden. Da das junge Mädchen von Herrn Sergius, einem reichen, gelehrten, der besten Gesellschaft angehörenden Manne, adoptiert worden, war ihre Zukunft in achtbarster Weise gesichert. Ja! Das freute ihn, diesen wackern Jean, obgleich ihm andererseits der Gedanke, daß Kayette die Seinen verlassen werde, sobald sie die Beringstraße erreichten, ernstlichen Kummer bereitete. Und dieses Leid hätte man vermieden, wenn sie als Tänzerin bei der Truppe geblieben wäre!
Aber Jean hegte eine zu aufrichtige Freundschaft für sie, um sich nicht über ihre Adoption seitens des Herrn Sergius zu freuen. Empfand er doch selber das glühende Verlangen, seine Lage zu ändern! Fühlte er sich doch vermöge seiner höheren Instinkte zu etwas anderem als zu dieser Gaukler-Existenz geschaffen! Und er hatte sich doch auf den öffentlichen Plätzen unzähligemale der Bravos geschämt, welche ihm seine wunderbare Geschicklichkeit eingetragen!
Als er eines Abends mit Herrn Sergius spazieren ging, öffnete er diesem sein Herz mit all seinem Sehnen und Bedauern. Er sagte, was er zu werden gewünscht hätte, zu welchem Ehrgeiz er sich berechtigt glaube. Indem sie auch weiterhin durch die Welt streiften, sich auf Jahrmärkten zur Schau stellten, ihrem Gymnastiker- und Akrobatengewerbe oblagen und sich mit Gauklern und Clowns umgaben, würden seine Eltern es vielleicht zu bescheidenem Wohlstande bringen, würde er selber vielleicht mit der Zeit ein wenig Vermögen erwerben. Aber bis dahin würde es zu spät sein, eine achtbarere Laufbahn zu betreten.
»Ich schäme mich meiner Eltern nicht, Herr Sergius,« fügte er hinzu. »Nein. Das wäre undankbar. Innerhalb der Grenzen dessen, was sie thun konnten, haben sie nichts unterlassen! Sie sind gut gegen ihre Kinder gewesen! Aber ich fühle die Kraft in mir, ein Mann zu werden, und ich soll nichts als ein armer Gaukler sein!«
»Mein Freund,« antwortete Herr Sergius »ich verstehe dich. Aber glaube mir, daß es schon etwas ist, ein wie immer beschaffenes Gewerbe ehrlich betrieben zu haben. Kennst du redlichere Menschen als deine Eltern?«
»Nein, Herr Sergius!«
»Nun denn, fahre fort sie zu achten, wie ich sie selber achte. Dein Streben nach Besserem beweist eine edle Gesinnung. Wer weiß, was die Zukunft dir bringen wird! Fasse Mut, mein Kind, und rechne auf meine Unterstützung. Ich werde niemals vergessen, was deine Familie für mich gethan hat; niemals! Und eines Tages, wenn ich kann.«
Während Herr Sergius sprach, bemerkte Jean, daß seine Stirne sich verdüsterte und seine Stimme unsicher ward. Er schien der Zukunft mit Besorgnis entgegenzusehen. Ein kurzes Schweigen entstand, welches Jean mit den Worten unterbrach:
»Warum wollen Sie nicht weiter als bis Port-Clarence mit uns reisen, Herr Sergius? Da Sie doch die Absicht haben, zu Ihrem Vater in Rußland zurückzukehren.«
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