Harris T. Kymbale reiste schon am Abend weiter. Wäre es ihm gestattet gewesen, die canadischen Eisenbahnen zu benutzen und durch den südlichen Theil der Provinz Ontario zu fahren, so hätte er, durch den langen Tunnel unter dem Saint-Claireflusse, nahe bei dessen Ausmündung in den Huronsee, auf geraderem Wege nach Buffalo und den Niagarafällen gelangen können. Das Gebiet der Dominion zu berühren, war ihm aber verboten. Er mußte sich nach dem Staate Ohio wenden und hier bis Toledo hinuntergehen, jener rasch zunehmenden Stadt, die am Südende des Eriesees erbaut ist. Von hier aus verlief sein Weg schräg nach Sandusky zu, durch die reichsten Weingelände von Amerika, und weiter, längs des östlichen Seeufers, nach Cleveland. Das ist eine prächtige Stadt mit zweihundertzweiundsechzigtausend Seelen; ihre Straßen sind von Ahornbäumen beschattet, ihre Avenue des Euklid bildet die Elysäischen Felder Amerikas, und ihre Vorstädte ziehen sich an herrlichen Hügeln hinan. Dazu führen die Petroleumquellen der Umgebung der Stadt die reichsten Schätze zu, auf die selbst Cincinnati neidisch sein könnte. Weiter berührte Kymbale Erie City in Pennsylvanien und verließ diesen Staat wieder an der Station Northville, von wo aus er in den Staat New York kam; dann eilte er an Dunkirk vorbei, das mit Gas aus natürlichen Quellen beleuchtet ist, und erreichte am Abend des 10. Mai Buffalo, die zweite Stadt des Staates, wo er hundert Jahre früher Tausende von Bisons, statt jetzt Hunderttausende von Einwohnern gefunden hätte.
Entschieden that Harris T. Kymbale wohl daran, sich in der schönen Stadt nicht aufzuhalten, auf eine Besichtigung ihrer Alleestraßen, ihrer Baumgänge im Niagara-Parke zu verzichten, und auch die Niederlagen und mächtigen Elevatoren am Ufer des Sees, durch den die Gewässer des Niagara strömen, unbesucht zu lassen. Binnen zehn Tagen, als letztem Termin, mußte er in Santa-Fé, der Hauptstadt von Neumexiko eingetroffen sein, und bis dahin war eine Strecke von vierzehnhundert Meilen (2253 Kilometer) zurückzulegen, die nicht einmal überall Eisenbahnverbindung hatte.
Am nächsten Tage landete er, nach einer kurzen Fahrt von fünfundzwanzig Meilen, beim Dorfe Niagara Falls.
Was der Reporter auch sagen mochte über diese berühmten, jetzt vielfach bekannten Fälle, die industriell schon sehr stark ausgenutzt werden und es in Zukunft noch weit mehr sein werden, wenn man ihre sechzehn Millionen Pferdekräfte gebändigt haben wird, so dürften doch weder das Thor der Airondaks, diese herrliche Vereinigung von Engpässen, Thalkesseln und Waldmassen, die von der Union zum Nationaleigenthum erklärt werden sollen, noch die Palissaden des Hudson, weder der Centralpark der Metropole, noch der Broadway oder die Brücke von Brooklyn, die so kühn über den östlichen Stromarm geworfen ist, bei Vergnügungsreisenden mit den Wundern des Hufeisenfalles einen Vergleich aushalten.
Nein, diesem donnernden Abstürzen der Gewässer des Eriesees in den Ontariosee durch den Niagaracanal ist gar nichts an die Seite zu stellen. Der Lorenzostrom ist es, der hier vorüberfluthet, sich an der Spitze der Ziegeninsel bricht und auf der einen Seite den amerikanischen, auf der anderen den canadischen Fall in Form eines Hufeisens bildet. Und dazu der wüthende Wogenschwall am Fuße der beiden Fälle, nebst den meergrünen Abgründen in der Mitte des zweiten, wonach der besänftigte Strom sein ruhiges Wasser drei Meilen weit bis zur Suspension-Bridge (Hängebrücke) hingleiten läßt, von der aus es nochmals in strudelnden Stromschnellen dahinschießt.
Früher erhob sich der Terrapinethurm auf den äußersten Felsen der Ziegeninsel, umschäumt von Wasserwirbeln, deren feuchter Staub ihn bis zur Spitze umhüllte und am Tage einen Sonnen-, in der Nacht einen Mondregenbogen entstehen ließ. Jetzt hat man den Thurm abtragen müssen, denn seit anderthalb Jahrhunderten ist der Fall, durch Abnagung der Felsen, etwa um hundert Fuß zurückgewichen, so daß das Bauwerk bald in den Abgrund zu stürzen drohte. Heute führt nur ein schwanker Fußsteig von einem Ufer des brausenden Stromes zum andern und gestattet den zweifachen Wasserschwall zu bewundern.
Geleitet von vielen canadischen und amerikanischen Besuchern, die ihn erwartet hatten, beschritt Harris T. Kymbale den Fußsteig bis zur Mitte, hütete sich aber streng, dessen zur Dominion gehörenden Theil zu betreten. Nach einem Hurrah aus tausend Kehlen, das begeistert ausgebracht den Höllenlärm des Wassers übertönte, kehrte er zum Dorfe Niagara Falls zurück, dessen Umgebung jetzt durch zahlreiche Maschinengebäude und gewerbliche Anlagen verunstaltet wird. Man bedenke aber nur, was es bedeutet, einen stündlichen Abfluß von hundert Millionen Tonnen industriell auszunutzen!
Der Reporter drang also nicht in die grünen Gehege der Ziegeninsel ein, er stieg nicht nach der unter der Insel ausgehöhlten Grotte hinunter und begab sich auch nicht bis unter den dicken Wasserschwall des Hufeisenfalls, wozu man die canadische Grenze überschreiten muß; dagegen vergaß er nicht, das Postamt des Dorfes aufzusuchen, von wo aus er einen Check über tausend Dollars an die Ordre des Notars Tornbrock absandte – ein Papier, daß der Cassierer der »Tribune« sich gewiß beeilen würde einzulösen, sobald es präsentiert wurde.
Am Nachmittage und nach einem ihm zu Ehren veranstalteten ausgezeichneten Lunch traf Harris T. Kymbale wieder in Buffalo ein und verließ diese Stadt an demselben Abend, um nun in der vorgeschriebenen Frist den zweiten Theil seiner Reise auszuführen.
Als er eben den Bahnwagen besteigen wollte, trat der Bürgermeister der Stadt, der ehrenwerthe H. V. Exulton, auf ihn zu.
»Sie thäten recht daran, mein Herr, begann er sehr ernsten Tones, sich nicht noch weiter mit zwecklosen Abstechern aufzuhalten…
– Und wenn mir das nun paßte! erwiderte Harris T. Kymbale, der sich eine derartige Bemerkung, selbst wenn sie von so hoher Stelle ausging, nicht gefallen lassen wollte. Mir scheint, ich habe das volle Recht…
– Nein, mein Herr, das haben Sie ebensowenig, wie der Bauer auf dem Schachbrett das, einen gerade vor ihm stehenden Springer zu nehmen…
– Oho, ich bin doch mein eigener Herr!
– Weit gefehlt, Verehrtester!… Sie gehören im Grunde denen, die auf Sie gewettet haben, und da bin ich auch mit fünftausend Dollars betheiligt! »
Der ehrenwerthe H. V. Exulton hatte ja eigentlich recht, und auch im eigenen Interesse konnte der Berichterstatter der »Tribune«, selbst auf die Gefahr hin, daß seine Berichte darunter litten, doch nur das eine Ziel verfolgen, seinen ihm zunächst vorgeschriebenen Platz auf kürzestem und schnellstem Wege zu erreichen.
Außerdem hatte Harris T. Kymbale in dem von ihm schon häufig besuchten Staate New York nichts mehr zu lernen. Zwischen seiner Hauptstadt und Chicago bestehen ebenso zahlreiche wie bequeme Verbindungen. Dahin zu gehen, ist die Sache eines einzigen Tages für die Amerikaner, deren Schnellzüge den Vierundzwanzigstundenrecord für tausend Meilen (1609 Kilometer) halten.
Alles in allem hatte Harris T. Kymbale sich über den Anfang seiner bevorstehenden Fahrten nicht zu beklagen; vom Staate New York mußte er sich ja nach Neumexiko begeben, wo er seine Wißbegier als Tourist reichlich befriedigen konnte. Es war wohl auch zu vermuthen, daß der Zufall beim Würfeln dahin noch mehrere am Match betheiligte Spieler verschlagen würde, die, wie Hermann Titbury, Lissy Wag und deren von ihr unzertrennliche Jovita Foley, diesen Staat noch nicht kannten.
Der Staat New York ist der erste der Conföderation seiner Bevölkerung nach, die nicht weniger als sechs Millionen Köpfe beträgt, doch nur der neunundzwanzigste seiner Ausdehnung nach, da er nur eine Fläche von neunundvierzigtausend Quadratmeilen (127350 Quadratkilometer) bedeckt. Es ist der »Empire State«, wie man ihn zuweilen nennt, ein dreieckiges Stück Land, dessen geradlinig verlaufende Seiten wegen Mangels natürlicher Grenzen willkürlich gezogen sind.
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