Wie ich vermutet hatte, waren wir mitten durch den Felsen marschiert und befanden uns jetzt auf seiner anderen Seite. Sofort bemerkte ich, daß er hier etwa fünfhundert Fuß niedriger war - das hieß, daß der Grund des Sees oder besser des alten vulkanischen Kraters, in dem wir standen, hoch über der umgebenden Ebene lag. Wir befanden uns in einem riesigen, von Felsen umsäumten Becher, ähnlich dem Plateau, auf dem Billalis Siedlung lag, nur zehnmal größer. Die düsteren Umrisse der gegenüberliegenden Felsen waren kaum zu erkennen. Ein großer Teil der auf diese natürliche Weise umhegten Ebene war bebaut und von Steinmauern umgeben, damit die zahlreichen Rinder- und Ziegenherden nicht in die Gärten eindringen konnten. Da und dort erhoben sich große grasbewachsenen Hügel, und in einigen Meilen Entfernung zur Mitte hin glaubte ich die Umrisse riesiger Ruinen zu erkennen. Mir blieb im Moment jedoch keine Zeit, weitere Beobachtungen anzustellen, da uns sogleich Scharen von Amahaggern umringten, die sich, ebenso schweigsam wie die uns bereits bekannten, dicht an uns herandrängten, um einen Blick in unsere Sänften zu werfen. Dann lief plötzlich eine große Abteilung bewaffneter Männer auf uns zu, angeführt von Offizieren mit Elfenbeinstäben in den Händen. Sie strömten wie Ameisen aus einer Felsenhöhle hervor und trugen außer den üblichen Leopardenfellen Gewänder. Mir war sofort klar, daß dies die Leibwache der Herrscherin >Sie< sein mußte.
Ihr Anführer trat zu Billali, salutierte, indem er seinen Elfenbeinstab quer über die Stirne legte, und stellte ihm einige Fragen, die ich nicht verstehen konnte. Nachdem Billali sie beantwortet hatte, machte das ganze Regiment kehrt und marschierte, von unserer Karawane gefolgt, die Felswand entlang. Nach etwa einer halben Meile machten wir vor dem Eingang einer riesigen, etwa sechzig Fuß hohen und zwanzig Fuß breiten Höhle halt. Billali stieg aus und forderte Job und mich auf, das gleiche zu tun. Leo war natürlich zu krank, um seine Sänfte zu verlassen. Ich folgte Billali, und wir traten in die große Höhle, die ein Stück weit noch vom Schein der untergehenden Sonne und dahinter von einer endlos scheinenden Reihe Lampen erhellt wurde. Als erstes bemerkte ich, daß die Wände mit Skulpturen in Basrelief be-deckt waren, welche zum größten Teil jenen ähnelten, die ich bereits auf den Vasen gesehen hatte: Liebess-zenen, Jagdstücke, Darstellungen von Hinrichtungen und der Folterung von Verbrechern, denen man glühende Töpfe über den Kopf stülpte. Daher stammte also dieser schöne Brauch unserer Gastgeber! Schlachtenbilder gab es nur wenige, dafür zahlreiche Darstellungen von Zweikämpfen und laufenden und ringenden Männern, woraus ich schloß, daß dieses Volk - sei es wegen der isolierten Lage seines Landes oder wegen seiner Stärke - nicht oft von äußeren Feinden angegriffen worden war. Zwischen den Bildern befanden sich lange Inschriften in mir gänzlich unbekannten Zeichen; sie waren auf keinen Fall griechisch oder ägyptisch, hebräisch oder assyrisch, sondern sahen noch am ehesten wie chinesische Schriftzeichen aus. In der Nähe des Eingangs waren sowohl Bilder wie Inschriften schon stark verwittert und undeutlich, tiefer im Inneren der Höhle jedoch so frisch und klar wie an dem Tag, da sie geschaffen worden waren.
Die Garde begleitete uns nur bis zum Eingang der Höhle. Dort stellte sie sich in Reih und Glied auf und ließ uns hindurch. Als wir eintraten, kam uns ein weißgekleideter Mann entgegen, der sich demütig verneigte, jedoch kein Wort sprach, was aber nicht verwunderlich war, denn er war, wie sich später herausstellte, taubstumm.
Nach etwa zwanzig Fuß zweigten im rechten Winkel von der großen Höhle zwei breite, in den Fels gehauene Gänge ab. Vor dem linken standen Wächter, woraus ich schloß, daß er zu den Gemächern der Königin führte. Der rechte Gang war unbewacht, und der Stumme bedeutete uns, in ihn hineinzugehen. Nach einigen Schritten stießen wir auf eine Kammer, vor deren Eingang eine aus Gras geflochtene Matte hing. Der Stumme schlug sie mit einer neuerlichen tiefen Verbeugung zurück und führte uns in ein ziemlich großes Gemach, das gleichfalls aus dem Felsen herausgeschlagen war und zu meiner großen Freude durch einen in die Decke gebohrten Schacht Licht erhielt. Ausgestattet war der Raum mit einer steinernen Bettstatt, mehreren Krügen mit Wasser zum Waschen und einigen schön gefärbten Leopardenfellen zum Zudecken.
Hier ließen wir den immer noch tief schlafenden Leo zurück, und Ustane blieb bei ihm. Ich bemerkte, daß der Stumme sie mit einem scharfen Blick ansah, als wollte er sagen: »Wer bist du, und wer hat dir befohlen, hierherzukommen?« Sodann führte er uns in einen anderen, ähnlichen Raum, den Job nahm, und darauf zu zwei weiteren, in denen Billali und ich uns niederließen.
Nachdem wir Leo versorgt hatten, war es Jobs und meine erste Sorge, uns zu waschen und unsere Kleider zu wechseln, denn seit dem Untergang der Dhau hatten wir keine Gelegenheit gehabt, uns umzuziehen. Zum Glück war, wie ich wohl erwähnte, der größte Teile unserer persönlichen Sachen in dem Walboot verstaut und deshalb gerettet und von den Trägern hierhergebracht worden, während sämtliche als Tauschobjekte und Geschenke für die Eingeborenen vorgesehenen Dinge verlorengegangen waren. Fast unsere ganze Kleidung bestand aus sehr festem grauen Flanell, der sich für Reisen in jenen Gegenden ausgezeichnet eignete. Obwohl nämlich Jackett, Hemd und Hose aus diesem Stoff nur etwa vier Pfund wogen - in tropischen Ländern, wo man jede zusätzliche Unze spürt, ein sehr wesentlicher Umstand -, schützte er sehr gut vor den Sonnenstrahlen, doch auch vor der Kälte, die bei plötzlichen Temperaturwechseln eintreten kann.
Nie werde ich das angenehme Gefühl vergessen, das mich erfüllte, nachdem ich mich gewaschen und die reinen Flanellkleider angezogen hatte. Das einzige, was zu meiner vollen Zufriedenheit fehlte, war ein Stück Seife, das wir leider nicht besaßen.
Später fand ich heraus, daß die Amahagger, zu deren vielen unsympathischen Eigenschaften wenigstens nicht Unreinlichkeit gehört, zum Waschen eine Art gebrannter Erde benützten, die anfangs zwar ziemlich unangenehm für die Haut ist, doch einen recht guten Seifenersatz darstellt.
Als ich mich angekleidet und meinen schwarzen Bart gekämmt und gestutzt hatte, dessen ungepflegter Zustand Billali nicht ganz zu Unrecht veranlaßt hatte, mich >Pavian< zu nennen, verspürte ich einen wahren Heißhunger. Ich war deshalb nicht böse, als ohne jedes vorherige Geräusch der Vorhang vor dem Eingang meiner Kammer zurückgeschlagen wurde und lautlos ein junges Mädchen eintrat, das mir durch eine nicht mißzuverstehende Gebärde - sie öffnete den Mund und deutete mit dem Finger darauf -, kundtat, daß etwas zum Essen bereit sei. Ich folgte ihr in die nächste Kammer, die ich noch nicht betreten hatte, und fand dort Job vor, welcher ebenfalls - zu seiner großen Verlegenheit - von einer schönen Stummen dorthin geführt worden war. Job hatte die Gunstbeweise der anderen Amahaggerdame nicht vergessen und verdächtigte nun jedes Mädchen, das ihm nahe kam, ähnlicher Absichten.
»Einfach unverschämt, wie diese Weiber einen anglotzen«, sagte er zu seiner Entschuldigung.
Diese Kammer war etwa zweimal so groß wie unsere Schlafräume, und ich erkannte auf den ersten Blick, daß sie früher einmal als Speisezimmer und vermutlich auch als Einbalsamierungsraum für die Totenpriester gedient hatte. Ich möchte gleich hier erwähnen, daß diese in den Fels geschlagenen Höhlen nichts anderes als riesige Katakomben darstellten, in denen man viele Jahrhunderte lang die sterblichen Überreste der Angehörigen jenes großen ausgestorbenen Volkes, dessen Denkmäler uns umgaben, mit unvorstellbarer Kunstfertigkeit konserviert und sodann für alle Zeiten beigesetzt hatte. Auf jeder Seite dieser Felsenkammer stand ein langer, etwa drei Fuß breiter und sechs Fuß hoher Tisch, der aus dem Fels herausgemeißelt und am Boden noch mit ihm verbunden war. Diese Tische waren leicht ausgehöhlt oder nach innen gebogen und boten so Platz für die Knie der Personen, welche auf zwei Fuß davon entfernten, sich die Höhlenwand entlangziehenden Bank saßen. Außerdem befand sich über jedem Tisch ein Schacht, durch den Licht und Luft eindrangen. Als ich die Tische näher untersuchte, bemerkte ich jedoch einen Unterschied zwischen ihnen, der mir zuerst entgangen war: der links vom Eingang stehende hatte offenbar nicht zum Essen, sondern zum Einbalsamieren gedient. Man sah dies ganz deutlich an den fünf flachen Vertiefungen in seiner Oberfläche, die wie menschliche Körper geformt waren, sowie an den kleinen runden Vertiefungen jeweils an ihrem einen Ende, die zweifellos für den Kopf bestimmt gewesen waren. Die Vertiefungen waren von verschiedener Größe, von der eines Erwachsenen bis zu der eines Kindes, und sie hatten in Abständen kleine Löcher, durch welche Flüssigkeiten ablaufen konnten. Zur Bestätigung meiner Vermutung genügte übrigens ein Blick auf die Wand der Höhle. Sie war mit überaus gut erhaltenen Skulpturen bedeckt, die den Tod, die Einbalsamierung und die Bestattung eines alten langbärtigen Mannes darstellten, wahrscheinlich eines einstigen Königs oder anderen Großen dieses Landes.
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