Wir beäugten uns eine Zeitlang gegenseitig. Genaugenommen beobachtete er alles, was sich bewegte, indem er ständig schnelle, aufmerksame Blicke nach allen Richtungen warf.
»Seht ihr, wie interessiert er an allem ist, was es zu sehen gibt?« sagte Richard. »Ihre Augen sind ihr Leben, und daran muß man denken, wenn man sie in Gefangenschaft hält. Man muß sicherstellen, daß sie in einer komplexen Umgebung leben. Raubvögel sind verhältnismäßig dumm. Wegen ihrer ungeheuren Sehkraft muß man ihnen nur irgendwas bieten, das sie optisch beschäftigt.
Als wir mit der Aufzucht von Raubvögeln in Gefangenschaft begonnen haben, hatten wir ein paar sehr scheue Vögel, die jedesmal verrückt wurden, wenn jemand am Aviarium vorbeiging, und da wir dachten, sie seien wegen der Störung so durcheinander, ist irgend jemand auf die schlaue Idee gekommen, ein sogenanntes Oberlicht- und Isolierungsaviarium zu bauen. Da sämtliche vier Wände undurchsichtig waren und nur das Dach offen war, gab es eigentlich nichts mehr, was die Vögel hätte aufscheuchen können. Wie wir leider feststellen mußten, war das ein bißchen zuviel des Guten. Die in dieser Umgebung geborenen Sprößlinge waren absolute Nervenbündel, weil ihnen der notwendige sensorische Input fehlte. Wir hatten das Problem von der völlig falschen Seite angepackt.
Ich meine, Tiere mögen vielleicht nicht intelligent sein, aber so dumm wie viele Menschen sind sie nun auch wieder nicht. Man muß sich nur mal die Primatenbereiche in einigen Zoos ansehen, die mit grünen, von Architekten entworfenen ›Bäumen‹ aus Metall ausgestattet sind, die zwar auf sehr reduzierte Art und Weise die Form eines Baumes wiedergeben, aber genaugenommen keine der Eigenschaften haben, die ein Affe an einem Baum interessant finden könnte: Blätter und Rinde und ähnliches Zeug. Für einen Architekten mag das nach einem Baum aussehen, aber Architekten sind ja auch wesentlich dümmer als Affen. Wir haben gerade einen Prospekt aus den USA bekommen – für Fiberglas-Bäume. Der Prospekt hatte einzig den Zweck, uns zu demonstrieren, wie stolz sie auf ihre Entwicklung waren, und die unterschiedlichen Farben vorzustellen, mit denen sie Flechten an die Bäume malen können. Das ist so lächerlich, daß man laut aufschreien möchte. Was sind das bloß für Leute? Na schön. Laßt uns mal den Vogel füttern. Seht ihr zu?«
Der Vogel sah zu. Die Formulierung »Er sah mit Adleraugen zu« liegt nahe, aber er sah mit Falkenaugen zu.
Richard schwang seinen Arm zurück. Der Falkenkopf verfolgte die Bewegung genau. Mit weit ausholendem Schwung warf Richard die Maus hoch in die Luft. Für einen Moment betrachtete der Falke sie einfach, mit fast unmerklich auf dem Ast herumzappelnden Beinen, vertieft in eine imposante Meisterleistung auf dem Gebiet der Differentialrechnung. Das winzige Totgewicht der Maus erreichte den höchsten Punkt seiner steilen Parabel und drehte sich langsam in der Luft.
Schließlich ließ sich der Falke von seinem Ast fallen und schwang sich in die Luft, als hänge er am Ende eines langen Pendels, dessen exakte Länge, Kardinalposition und Schwingungsgeschwindigkeit er selbst errechnet hatte. Der Bogen, den er beschrieb, überschnitt sich makellos mit dem der fallenden Maus, der Falke ergriff die Maus sauber mit den Fängen, schwebte weiter in einen anderen nahegelegenen Baum und biß ihr den Kopf ab.
»Er frißt den Kopf selbst«, sagte Richard, »und nimmt die restliche Maus mit, um das Weibchen im Nest zu füttern.«
Wir verfütterten einige weitere Mäuse an den Falken, indem wir sie manchmal in die Luft warfen und manchmal auf dem halbkreisförmigen Felsen liegenließen, damit er in aller Ruhe danach tauchen konnte. Schließlich war der Vogel satt, und wir gingen.
Man richtet Falken ab, indem man Hunger als ein Mittel zur Manipulation der Vogelpsyche einsetzt. Wenn der Vogel zuviel zu fressen bekommen hat, wird er nicht zur Zusammenarbeit bereit sein und sich durch jeden Versuch, ihm etwas beibringen zu wollen, belästigt fühlen. Er sitzt einfach in einem Baumwipfel und schmollt. Er »hat es satt«.
Richard hatte dann am Abend auch so ziemlich alles satt, und das mit gutem Grund. Es hatte nichts mit Überfütterung zu tun, wohl aber mit dem, was andere Leute gern futterten. Eine mauritische Freundin kam auf einen Sprung vorbei und brachte ihren Chef mit, einen Franzosen von der nahe gelegenen Insel Réunion, der sich einige Tage lang auf Mauritius aufhielt und bei ihr wohnte.
Er hieß Jacques und war uns allen vom ersten Moment an unsympathisch, wenn auch keinem so sehr wie Richard, der ihn auf Anhieb haßte.
Er war ein Franzose von der adretten, arroganten Sorte. Mit trägem, herablassendem Blick, einem trägen, herablassenden Lächeln und, wie Richard es später formulierte, einem trägen, herablassenden und an Beschränktheit nicht zu überbietenden Gehirn.
Jacques betrat das Haus und stand träge und herablassend in der Gegend herum. Er wußte ganz offensichtlich nicht, was er hier sollte. Es war kein besonders elegantes Haus. Es war voll von abgenutzten alten Möbeln, und an sämtlichen Wänden hingen mit Reißzwecken befestigte Vogelbilder. Offensichtlich wollte er sich am liebsten trübsinnig gegen eine Wand lümmeln, nur fand er keine, die für seine Schulter geeignet gewesen wäre, also mußte er sich genau dort trübsinnig hinlümmeln, wo er gerade stand.
Wir boten ihm ein Bier an, das er unter Aufbietung aller Freundlichkeit, die ihm möglich war, entgegennahm. Er fragte uns, was wir hier täten, und wir sagten, wir würden eine Serie für die BBC produzieren und ein Buch über die Tierwelt von Mauritius schreiben.
»Warum denn das?« sagte er in verstörtem Tonfall. »Hier gibt es doch nichts.«
Richard legte anfänglich bewundernswerte Zurückhaltung an den Tag. Er stellte äußerst beherrscht klar, auf Mauritius lebten einige der seltensten Vögel der Welt. Er erläuterte, daß er und Carl und die anderen aus genau diesem Grund hier seien: um sie zu schützen und zu studieren und aufzuziehen.
Jacques zuckte die Achseln und sagte, sie seien nicht besonders interessant oder ungewöhnlich.
»Ach?« sagte Richard betont ruhig.
»Nichts mit irgendwie interessantem Gefieder dabei.« »Tatsächlich?« sagte Richard.
»Mir ist so was wie der arabische Kakadu lieber«, sagte Jacques mit einem trägen Lächeln.
»Aha.«
»Ich lebe nämlich auf Réunion«, sagte Jacques.
»Aha.«
»Und dort gibt es mit Sicherheit keine interessanten Vögel«, sagte Jacques.
»Das liegt daran, daß die Franzosen sie alle abgeschossen haben«, sagte Richard.
Er machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in die Küche, um sehr, sehr geräuschvoll abzuwaschen. Er kam erst wieder, nachdem Jacques gegangen war. Er stakste mit einer noch nicht geöffneten Rumflasche zurück ins Zimmer und warf sich auf ein zerschlissenes altes Sofa.
»Vor ungefähr fünf Jahren«, sagte er, »haben wir zwanzig der Rosa Tauben, die wir im Zentrum großgezogen hatten, genommen und freigelassen. Ich schätze mal, daß uns jeder der Vögel, wenn man die Zeit, die Arbeit und die Mittel zusammenrechnet, die wir investiert haben, tausend Pfund gekostet hat. Aber das ist nicht ausschlaggebend. Ausschlaggebend ist die Erhaltung des einzigartigen Lebens auf dieser Insel. Nur steckten binnen kurzer Zeit all die Vögel, die wir aufgezogen hatten, in Schmortöpfen. Nicht zu fassen. Wir konnten es einfach nicht fassen.
Begreift ihr, was mit dieser Insel geschieht? Sie ist ein Sauhaufen. Sie ist eine völlige Ruine. In den fünfziger Jahren ist sie mit DDT getränkt worden, das schnurstracks in die Nahrungskette gelangt ist. Das hat eine Menge Tiere ausgerottet. Dann sind Orkane über die Insel gezogen. Gut, dagegen können wir nichts tun, aber sie sind über eine Insel gezogen, die bereits durch das ganze DDT und die Rodungen geschwächt war, also haben sie irreparable Schäden angerichtet. Heute sind wegen der fortgesetzten Abholzung und Brandrodung nur noch zehn Prozent des ursprünglichen Waldbestandes erhalten, und die werden für die Rotwildjagd abgeholzt. Was von den einmaligen Arten auf Mauritius noch übrig ist, wird von irgendwelchem Zeug überwuchert, das überall auf der Welt vorkommt – Liguster, Guaven und ähnlichem Scheiß. Hier, seht euch das an.«
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