Bolitho lächelte zurück. Der wenigstens war guter Laune. Er beobachtete die langsam dahinziehenden Boote: insgesamt achtzig Mann mit Offizieren, und noch mehr würden übersetzen, sobald er die Boote für ihren Transport entbehren konnte. Er setzte sich und zog den Hut tiefer über die Augen. Dabei rührte er an die Stirnnarbe und erinnerte sich an jenes andere Wasserbeschaffungsunternehmen, an dem er vor so langer Zeit beteiligt gewesen war… Der plötzliche Angriff damals, Schreie von überallher, der riesige Wilde, der das Entermesser schwang, das er soeben einem sterbenden Matrosen entrissen hatte. Bolitho hatte es noch aufblitzen sehen, dann war er mit blutüberströmten Gesicht besinnungslos zu Boden gestürzt. Sein Bootsmann hatte sich dazwischen-geworfen, sonst wäre es aus mit ihm gewesen.
Herrick paßte es vermutlich nicht, daß Bolitho die Landetruppe selbst befehligte. Das war normalerweise Sache des Ersten Leutnants. Aber die Erinnerung an den Kampf damals mahnte ihn daran, daß jederzeit unvermutet etwas schiefgehen konnte.
«Noch eine Kabellänge, Captain«, sagte Allday und ließ die Gig etwas abfallen. Bolitho fuhr auf; er mußte geträumt haben. Die Undine war jetzt weit weg und sah wie ein zierliches Spielzeug aus, während vor ihrem Bug das Land seine riesigen grünen Arme nach ihnen ausstreckte.
Wieder einmal erwies es sich, daß man auf Mudges Gedächtnis bauen konnte. Zwei Stunden, nachdem die Boote auf den Strand gezogen und die Arbeitskommandos eingeteilt waren, meldete Fowlar, der Steuermannsmaat, er habe einen Bach mit wunderbar frischem Wasser gefunden.
Sofort gingen sie an die Arbeit. Bewaffnete Wachen wurden an sorgfältig ausgewählten Punkten mit guter Sicht postiert und Späher auf die kleine Anhöhe geschickt, unter der Mudges Bach durch den dichten Dschungel rann. Nach den ersten unsicheren Schritten auf dem festen Land, das ihre Seebeine nicht mehr gewohnt waren, machten sich die Matrosen eifrig ans Werk. Pryke, der Schiffszimmermann, baute mit seinen Helfern rasch ein paar kräftige Schlitten, auf welchen die vollen Wasserfässer hinunter zu den Booten gezogen werden sollten; und während der Küfer wachsam am Bach wartete, hieben die anderen unter Fowlars Aufsicht mit Äxten einen Pfad durch den Wald.
Bolitho hielt Verbindung zwischen Bach und Strand. Mehrmals ging er hin und her, um sich zu vergewissern, daß alles gut lief, und Midshipman Penn trabte treulich mit ihm, um im Bedarfsfall als Befehlsüberbringer zu fungieren. Am Strand hatte Leutnant Soames das Kommando; er sollte auch den Nachschub einteilen, der später vom Schiff herüberkommen würde. Davy war für den Betrieb an der Wasserstelle zuständig, und Keen tauchte ab und zu an der Spitze einiger Bewaffneter auf, mit denen er die arbeitende Abteilung gegen unwillkommene Besucher sichern sollte. Fast sofort hatte Fowlar zwei Feuerstellen von Eingeborenen entdeckt; aber sie waren schon verrottet und auseinandergeweht und wohl seit Monaten nicht mehr benützt worden. Trotzdem spürte Bolitho eine Bedrohung im Nacken, wenn er stehenblieb, um zu kontrollieren, wie weit die einzelnen Abteilungen waren: eine schwer zu definierende Feindseligkeit.
Einmal mußte er auf dem Weg landeinwärts beiseitetreten, als ein plumper Schlitten, von zwei Dutzend lästerlich fluchenden Matrosen geschoben, an ihm vorbeidonnerte und dabei das Unterholz wegdrückte. Da flogen unter mißtönendem Gekreisch mehrere große Vögel auf. Bolitho sah ihnen nach und trat dann in die breite Schleifspur zurück. Wenigstens gab es hier doch etwas Lebendiges, dachte er. Unter den Bäumen, die den Himmel verdeckten, war die Luft schwer und stank nach faulenden Pflanzen. Hier und da raschelte und knackte etwas, oder ein Auge blitzte wie ein kleiner schwarzer Knopf kurz in der Sonne auf und verschwand ebenso schnell.
«Das könnten Schlangen sein«, keuchte Penn. Sein Atem ging schwer, das Hemd klebte ihm am Körper, denn er mußte sich mächtig anstrengen, um Bolithos Tempo durchzuhalten.
Davy stand unter einem Felsüberhang und machte einen Strich in seiner Liste, denn eben hämmerte Duff wieder ein Wasserfaß sorgfältig zu, damit auf dem holprigen Weg kein Tropfen verlorenging- Er richtete sich auf, nahm Haltung an und meldete:»Alles klar, Sir.»
«Gut. «Bolitho bückte sich, schöpfte mit den hohlen Händen Wasser aus dem Fluß und trank. Es schmeckte erfrischend wie Wein, trotz der schwärzlich-fauligen Wurzeln, die von beiden Ufern ins Wasser wuchsen.»Kurz bevor es dunkel wird, machen wir Schluß«, sagte er und blickte hoch zu einem Fleck blauen Himmels, als die Bäume leise zu rauschen begannen. Am Boden, unter den verfilzten Zweigen, war die Luft unbeweglich, aber oben wehte ein stetiger Landwind.
«Ich steige auf den Hügel, Mr. Davy. «Es kam ihm vor, als höre er Penn hinter sich verzweifelt aufstöhnen.»Hoffentlich sind Ihre Ausguckposten wach.»
Es war ein langer, anstrengender Marsch, und als sie aus den Bäumen heraus waren und das letzte Stück Weg frei vor ihnen lag, fühlte Bolitho die Hitze auf seinen Schultern und ein Brennen unter seinen Schuhsohlen, als schritte er über einen glühenden Rost. Aber die beiden Posten oben schienen sich ganz wohl zu fühlen. In ihren fleckigen Hosen und Hemden, die tiefgebräunten Gesichter von mächtigen Strohhüten fast verborgen, glichen sie eher Schiffbrüchigen oder Ausgesetzten als ehrlichen britischen Seeleuten.
Aus einem Streifen Segeltuch hatten sie sich ein kleines Sonnendach aufgeriggt; dahinter lagen ihre Waffen, die Wasserflaschen und ein großes Fernrohr. Der eine tippte sich grüßend an die Stirn und meldete:»Alles klar, Käpt'n.»
Bolitho zog sich den Hut tiefer in die Stirn und blickte aufmerksam in die Ebene hinunter. Die Küste war zerrissener, als er vermutet hatte. Hier und da, in einer kleinen Bucht oder einem schmalen Meeresarm, den keine Karte verzeichnete, glitzerte Wasser durch Stämme und Laubwerk. Landeinwärts erstreckte sich überall, in der Ferne von einer hohen dunklen Felsbarriere begrenzt, dichter Baumbewuchs wie die Dünung einer grünen See. Und so verfilzt waren die Wipfel, daß es aussah, als könne man festen Schrittes darübermarschieren.
Bolitho nahm das Fernrohr und richtete es auf das Schiff. Die Umrisse der Undine änderten sich ständig in der hitzeflirrenden Luft, aber er sah die Boote langsam wie müde Wasserkäfer hin und her fahren. Staub und Sand an seinen Fingern verrieten ihm, daß das Teleskop mehr am Erdboden gelegen als zur Beobachtung gedient hatte. Er hörte Penn laut glucksend aus der Wasserflasche trinken und konnte sich vorstellen, daß die Posten ihn zu allen Teufeln wünschten, damit sie wieder ihre Ruhe hätten. Zwar machte ihr Dienst hier oben recht durstig, aber er war immerhin leichter, als die Schlitten mit den Wasserfässern durch den Urwald zu zerren. Bolitho senkte das Glas. So viele Männer, Schlitten, Fässer — doch von hier aus sah man überhaupt nichts. Sogar der Strand war verdeckt. Sobald die Boote sich der Küste näherten, schienen sie von den Bäumen verschluckt zu werden.
Bolitho wandte sich so plötzlich nach rechts, daß die Männer erschraken. Sorgfältig suchte er das Terrain ab. Bäume und Wasserstreifen tauchten in der Linse des Fernrohrs auf und verschwanden wieder. Irgend etwas war da gewesen, eine flüchtige Reizung am Rande seines Blickwinkels — aber was? Die Posten sahen ihn zweifelnd an, bewegungslos, erstarrt, wie hypnotisiert.
Ein Reflex in der Linse? Er blinzelte und rieb sich das Auge. Nichts. Noch einmal begann er zu suchen, ganz langsam. Dichter, geschlossener Urwald. Oder sah er nur, was er zu sehen erwartete? Und daher… Er versteifte sich, hielt den Atem an. Als er das Glas sinken ließ, verschwamm das Bild in der Ferne. Er wartete, zählte die Sekunden, bis sein Atem wieder regelmäßig ging.
Die Posten flüsterten miteinander, und Penn trank schon wieder. Wahrscheinlich glaubten sie, ihr Kommandant sei zu lange in der Sonne gewesen. Sehr vorsichtig hob er das Glas erneut ans Auge. Dort, etwas nach rechts, wo er bereits Wasser blinken gesehen hatte, war etwas Dunkleres, das nicht zum Grün und Braun des Waldes paßte. Er starrte hin, bis ihm das Auge tränte und er nichts mehr sehen konnte.
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