Bolitho stand auf dem Achterdeck etwas abseits von den anderen Offizieren, um Herrick in Ruhe sein Ankermanöver fahren zu lassen. Benbow hatte nur noch Bramsegel und Klüver stehen und setzte sich jetzt leicht vom Konvoi ab, dessen größtes Schiff bereits Signalkontakt mit dem Land aufnahm.
Die Reise nach Gibraltar hatte neun Tage gedauert und war nach
Grubbs Worten glatt und schnell verlaufen. Aber für Bolitho war es die längste Etappe seines Lebens gewesen; nicht einmal der tägliche Anblick von Belinda auf der hohen Poop des Indienfahrers konnte seine Ungeduld und sein Verlangen zügeln.
Vom ersten Tag an, gleich nachdem Herrick das Signal für die Duchess of Cornwall absetzen ließ, hatten sie sich beide ohne besondere Absprache zur gleichen Zeit an Deck eingefunden. Es war, als spüre sie seine Anwesenheit, als müsse sie ihn leibhaftig sehen, sei es auch über eine ganze Strecke Wasser hinweg, um sich zu vergewissern, daß es nicht nur ein Traum war, sondern eine Laune des Schicksals, was sie wieder vereint hatte.
Bolitho blickte durchs Teleskop zu ihr hinüber, ohne sich der umstehenden Offiziere oder anderen Wachgänger auch nur bewußt zu sein. Und stets winkte sie ihm zu, das lange Haar von einem Strohhut gebändigt, den eine breite Schleife festhielt. Jetzt, da die Wartezeit fast vorbei war, spürte Bolitho eine seltsame Nervosität. Aber Herricks Befehl riß ihn aus seinen Gedanken.»Klar zum Ankern!»
Mit langen Schritten eilte Wolfe aus dem Schatten des Besan-mastes.»Bemannt die Brassen! An die Bramsegelschoten!»
Bolitho beschattete seine Augen und sah zu einem verankerten Kriegsschiff hinüber. Der Signalfähnrich hatte es bereits als die Dorsetshire identifiziert: das mit achtzig Kanonen bestückte Flaggschiff von Vizeadmiral Sir John Studdart. Die Admiralsflagge hing leblos von ihrem Fockmast herab, und Bolitho fragte sich, was der Wachoffizier drüben wohl davon halten mochte, daß an Benbows Besan statt Herricks Kommodorewimpel seine eigene Admiralsflagge wehte.
«Gei auf Bramsegel!«kam das nächste Kommando.
«Alles klar, Sir«, meldete Grubb.
Dann:»Leeruder!« [15] Damals noch indirekte Ruderkommandos, auf die Pinne bezogen; also: Ruder nach Lee, Schiff dreht nach Luv.
Müde, aber würdevoll drehte die Benbow langsam in den Wind und verlor auch das restliche bißchen Fahrt, als die letzten noch stehenden Segel schlaff und leer zu killen begannen, bis sie endlich von den Toppsgasten an den Rahen aufgetucht wurden.
«Laß fallen Anker!»
Gischt spritzte am Bug auf, als der große Anker ins klare Wasser klatschte; Seeleute trabten zum Ladebaum, um die Barkasse so schnell wie möglich auszuschwingen. Denn alle wußten: Schon seit ihrer ersten Annäherung, seit sie mit fünfzehn dröhnenden Salutschüssen die Admiralsflagge gegrüßt hatten, waren überall Ferngläser auf die Benbow gerichtet, durch die jedes ihrer Manöver kritisch beobachtet wurde.
«Bootsbesatzung — antreten!«Das war Allday, dessen Gesicht keinerlei Spuren der Gefangenschaft mehr trug.
Herrick trat zu Bolitho an die Webeleinen und berührte grüßend seinen Hut.»Setzen Sie sofort zum Flaggschiff über, Sir?«»Aye, Thomas, bringen wir es hinter uns. Sonst findet noch jemand bei Sir John Gehör, der uns nicht wohlgesonnen ist. «Bolithos Blick glitt zu dem großen Indienfahrer hinüber.»Und ich habe noch viel zu tun.»
Herrick entging der Blick nicht, wie ihm auch Bolithos tägliche Versuche nicht entgangen waren, auf dem anderen Schiff die schlanke Gestalt mit dem schattenspendenden Strohhut zu erspähen.
«Barkasse ist längsseit, Sir. «Wolfe trat herzu und musterte die beiden Freunde neugierig.
An der Schanzkleidpforte warteten schon Major Clintons Seesoldaten, während die Bootsmannsmaaten ihre silbernen Trillerpfeifen an die Lippen setzten.
Bolitho drückte den Säbel fest an die Seite, und wieder störte ihn seine Fremdheit. Der Verlust seiner altvertrauten, ererbten Waffe ging ihm immer noch schmerzlich nahe. Aber er biß die Zähne zusammen und schritt zur Pforte, ohne zu hinken, ohne sich seine Trauer anmerken zu lassen.
Die Seesoldaten präsentierten ihre Seitenwaffen, die Pfeifen schrillten, und Bolitho kletterte schnell an der Bordwand hinab zur
Barkasse, wo Allday ihn in elegantem dunkelblauem Rock und hellen Nankingbreeches erwartete.
Browne saß schon im Heck des Bootes und musterte Bolitho mit ausdruckslosem Gesicht.
Wie sie mich alle anstarren, dachte Bolitho. Wie eine Art Übermensch.
«Absetzen vorn! Rudert an — zugleich!«Allday legte die Pinne; die Sonne reflektierte so grell vom Wasser, daß er die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkneifen mußte.
Leise fragte Bolitho:»Na, Allday, wie schmeckt es, wieder frei zu sein?»
Der bullige Bootsführer wandte den Blick nicht von einem nahen Wachboot, als er antwortete:»Ich habe die Marine schon oft zum Teufel gewünscht, Sir, und ich wäre eine Memme, wenn ich das nicht zugeben würde. «Im Wachboot drüben wurden die Ruder zum Gruß senkrecht gestellt, der Leutnant zog im Stehen seinen Hut, als die Admiralsbarkasse vorbeizischte.»Trotzdem — jetzt ist sie mein Zuhause, und mir ist, als wäre ich heimgekehrt.»
Browne nickte.»Mir geht's genauso, Sir.»
Bolitho setzte sich auf der Ducht zurecht und drückte den Hut fester in die Stirn.
«Aber um ein Haar wären wir nie mehr heimgekehrt, Oliver.»
«Riemen ein! Klar bei Bootshaken!»
Allday konzentrierte sich ganz auf das Anlegemanöver und ignorierte die neugierigen Gesichter oben an der Reling der Dorsetshire, die blendenden Sonnenreflexe auf den Bajonetten, die roten und blauen Uniformröcke.
Schließlich stieg Bolitho zur Schanzkleidpforte hinauf, und wieder begann das Trillern und Stampfen des Begrüßungszeremoniells.
Der Vizeadmiral wartete unter der Poop, bis sein Flaggkapitän die Formalitäten abgewickelt hatte, dann schlenderte er heran, um Bolitho nun seinerseits zu begrüßen.
Beide hatten als Kapitäne gegen die amerikanische Revolution gekämpft, aber danach war Bolitho Studdart mehrere Jahre nicht begegnet und sah nun überrascht, wie stark gealtert er war. Er wirkte füllig und beleibt, und sein rundes, fröhliches Gesicht verriet, daß er gern üppig lebte.
Nach einem herzlichen Händedruck rief Studdart aus:»Hol mich der Teufel, Bolitho, aber Ihr Anblick tut mir in der Seele wohl! Denn als letztes hörte ich von Ihnen, daß die Franzosen angeblich Ihren Kopf auf einer Lanze spazierentrugen. «Er lachte laut auf.»Kommen Sie mit nach achtern, Sie müssen mir alles erzählen. Ich bin gern genausogut informiert wie die Gazetten. «Mit einer vagen Geste zum Land setzte er hinzu:»Zweifellos haben die Spanier in Algeciras Ihre Ankunft beobachtet und werden die Neuigkeit schleunigst an Napoleon weiterleiten.»
In der großen Achterkajüte war es angenehm kühl; der Vizeadmiral entließ seine Diener, schickte Browne mit einem Auftrag davon und lehnte sich dann bequem zurück, um Bolithos Version der Ereignisse zu hören. Er unterbrach ihn kein einziges Mal, auch dann nicht, als Bolitho ihm seine Theorie über die optischen Telegraphen darlegte. Bolitho bewunderte Studdarts mühelose Selbstbeherrschung und begann zu begreifen, weshalb er so schnell befördert worden war: Der Mann hatte gelernt, sich seine Besorgnis nicht anmerken zu lassen.
Erst als Bolitho auf Neales Tod zu sprechen kam, ergriff der Vizeadmiral das Wort.
«Daß wir Styx verloren haben, gehört zu dem Zoll, den der Krieg von uns fordert. Aber der Tod ihres Kommandanten ist deshalb nicht weniger erschütternd. «Er füllte ihre Weingläser nach.»Trotzdem sollten Sie sich nicht die Schuld an Neales Tod geben. Ihre Flagge weht auf der Benbow und meine hier. Man hat uns eine ehrenvolle Führungsaufgabe gegeben, und Sie sind überdies von Admiral Beauchamp mit diesem Sondereinsatz in der Biskaya betraut worden. Sie haben Ihr Bestes getan, niemand kann Ihnen einen Vorwurf machen. Allein schon die Tatsache, daß Sie dieses gut funktionierende Telegraphensystem entdeckt haben, von dem keiner unserer sogenannten Agenten im Lande uns auch nur ein Wort gesagt hat, bringt uns zusätzliche Vorteile. Ihr Leben ist für
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