«Wenn ich nur wüßte. «begann er, unterbrach sich aber, ve rär-gert darüber, daß er seine größte Sorge beinahe laut ausgesprochen hätte: Richard Bolitho, vielleicht noch am Leben, mochte irgendwo in der Dunkelheit dort drüben in einem stinkenden französischen Verlies schmachten. Ober verlassen und sterbenskrank in einer einsamen Fischerhütte liegen.
Wenn er ehrlich war, mußte Herrick sich eingestehen, daß dies der wahre Grund dafür war, weshalb er Plymouth so hastig und ohne Flaggkapitän verlassen hatte. Er wollte die Reise nach Gibraltar und zurück schnellstens hinter sich bringen. Seit der Verlustmeldung von Styx waren keine Neuigkeiten mehr durchgekommen, nicht einmal Gerüchte über das Schicksal ihrer Besatzung. Vielleicht waren tatsächlich alle tot.
Eine See donnerte aufs Batteriedeck und brach sich an den festgezurrten Achtzehnpfündern wie an einer Reihe dunkler Felsen.
Vor Herricks geistigem Auge stand Bolithos Gestalt so klar da, als wettere er und nicht Wolfe diesen Sturm mit ihm ab.
Kurzangebunden sagte er:»Ich gehe nach unten, Mr. Wolfe. Aber rufen Sie mich sofort, wenn Sie mich brauchen.»
«Aye, Sir«, sagte Wolfe und sah Herrick kopfschüttelnd nach. Wenn der Verlust eines Freundes einen Mann so zerrütten konnte, dann verzichtete er lieber auf Freunde.
Er sah, daß sich der Wachoffizier unterhalb der Poop übergab und dabei vom abfließenden Spritzwasser wie ein Ertrinkender gebeutelt wurde. Gellend rief er:»Mr. Nash — Sir! Kümmern Sie sich freundlicherweise um Ihre Pflichten! Zum Henker mit Ihnen, Sir! Sie sind so fehl am Platz wie eine Hure im Beichtstuhl!»
Der unglückselige Leutnant verschwand unter der Poop, um den Rudergängern am Doppelrad beizustehen; wahrscheinlich fürchtete er Wolfes Zorn mehr als die Seetollheit.
In der großen Kapitänskajüte drangen das Jaulen des Sturms und das Donnern der See nur gedämpft durch die dicken Planken. Herrick ließ sich auf einen Stuhl fallen, und sofort sammelte sich auf der schwarz-weiß gewürfelten Bespannung unter ihm eine Wasserpfütze.
Er hörte seinen Steward in der Pantry hantieren und wurde sich seines leeren Magens bewußt. Seit Mittag des vorangegangenen Tages hatte er nichts zu sich genommen. Jetzt war er hungrig und durstig.
Aber nicht sein eigener Steward, sondern der schmächtige Oz-zard brachte ihm den Imbiß. Vorsichtig stellte er das Tablett neben Herricks Ellbogen und duckte sich wie ein ängstliches Tierchen, als das Deck wieder in ein Wellental sackte.
Herrick musterte ihn düster. Wie hätte er Ozzard trösten können, wenn er selbst Bolithos Verlust immer noch so schmerzhaft spürte wie eine offene Wunde? Er nahm einen Schluck Brandy und wartete darauf, daß er ihm Taubheit und Salzgeschmack aus der Kehle brannte.
Der Seesoldat vor der Tür störte ihn auf.»Midshipman der Wache, Sir!»
Müde wandte sich Herrick dem eintretenden Kadetten zu.»Was gibt's, Mr. Stirling?»
Der Junge war knapp vierzehn, hatte sich aber nach den ersten schwierigen Wochen auf der Benbow, seinem ersten Schiff, prächtig eingelebt. Seine Jugend und Gesundheit isolierten ihn wie Schutzschichten vor dem Drama, das sich rund um ihn abspielte.
«Empfehlung des Ersten Offiziers, Sir, und der Horizont wird schon heller.»
Hastig schweifte sein Blick durch die geräumige Kajüte, die im Vergleich zur Fähnrichsmesse unten im Orlopdeck ein Palast war. Wenn er sich alles gut merkte, konnte er es im nächsten Brief seinen Eltern erzählen oder — gleich nachher — seinen Kameraden während der Freiwache.
Herrick wäre das Kinn vor Erschöpfung um ein Haar auf die Brust gesunken.»Und der Wind?«blaffte er.
Der Junge schluckte krampfhaft.»Stetig aus Ost, Sir. Der Master glaubt, daß er jetzt bald nachlassen wird.»
«So, glaubt er das?«Herrick streckte sich gähnend.»Meistens behält er ja recht.»
Er merkte, daß der Midshipman den glänzenden Prunksäbel an der Wand anstarrte. Das erinnerte ihn an die Zeit, als Neale auf der alten Phalarope Midshipman gewesen war, an Adam Pascoe, der sich nach einem eigenen Schiff verzehrte, jetzt aber um seinen geliebten Onkel trauerte — und an die Dutzende, ja Hunderte junger Offiziersanwärter, die er im Lauf der Jahre hatte kommen und gehen sehen. Einige hatten inzwischen Kapitänsrang erreicht, andere den Dienst quittiert, um ihr Glück anderswo zu suchen. Und viele von ihnen waren nicht einmal so alt geworden wie der junge Stirling hier.
Freundlich sagte Herrick:»Nehmen Sie den Säbel ruhig herunter und sehen Sie ihn sich an.»
Der Junge ging in seinem salz- und teerverkrusteten Bootsrock unter den aufmerksamen Blicken Herricks und Ozzards zur Wand hinüber, nahm den Säbel vorsichtig ab und drehte ihn langsam unter dem Licht der Lampe hin und her, um die eingravierten Worte und Verzierungen zu studieren.
Ehrfürchtig sagte er:»Ich wußte gar nicht, Sir — ich meine…«Mit glänzenden Augen wandte er sich um.»Er muß ein großartiger Offizier gewesen sein, Sir.»
Herrick fuhr auf.»Gewesen sein?«Bei seinem Ton zuckte der Junge so erschreckt zusammen, daß er gemäßigter fortfuhr:»Ja, Mr. Stirling, das war er. Mehr noch: ein großartiger Mann.»
Sorgsam hängte der Midshipman den Säbel zurück an die Wand.»Tut mir leid, Sir, ich wollte Sie nicht kränken.»
«Das haben Sie auch nicht getan, Mr. Stirling. Ich hoffte auf das Unmögliche und vergaß, daß es keine Wunder mehr gibt.»
«Ich — ich verstehe, Sir.»
Stirling zog sich zur Tür zurück, fest entschlossen, kein Detail in diesem Raum, kein Wort dieses Gesprächs mit dem Kommodore jemals zu vergessen.
Herrick sah ihm nach. Junge, du verstehst noch nicht die Hälfte, dachte er. Aber eines Tages, wenn du Glück hast und überlebst, wirst du mich wirklich begreifen.
Kurz darauf entfiel das Glas seinen erschlaffenden Fingern und zerschellte auf dem Boden Ozzard, der den Schlafenden nicht aus den Augen gelassen hatte, bückte sich nach den Scherben. Doch dann richtete er sich unvermittelt wieder auf und zog eine verächtliche Grimasse. Sollte doch der Steward des Kommodore die Bescherung wegräumen, dachte er. Er warf einen Blick zur Kombüsentür und verbannte Herricks Worte aus seinem Gedächtnis. Was Bolitho betraf, irrte sich der Kommodore. Alle irrten sich.
Ozzard schlich in die Kombüse und setzte sich in eine Ecke, hörte das Schiff um sich herum in allen Verbänden ächzen. Nein, er war Konteradmiral Bolithos Steward, niemandes sonst, und würde hier warten, bis er zurückkehrte. Basta!
Herrick eilte quer übers Achterdeck und spähte, von der Gischt fast geblendet, zu Wolfes hoher Gestalt bei den Finknetzen hinüber.
«Da, Sir!«rief Wolfe ihm entgegen.»Hören Sie?»
Herrick befeuchtete sich die Lippen und ignorierte die Neugier der Umstehenden. Ja, da war es wieder. Nun bestand kein Zweifel mehr.
«Kanonenfeuer«, sagte er heiser.
Wolfe nickte.»Leichte Schiffsartillerie, Sir. Wahrscheinlich Ganymede im Gefecht mit einem Fahrzeug ähnlicher Größe.»
Herrick stapfte das schräge Deck nach Luv hinauf und spähte angestrengt über die weißmähnigen Wellenkämme in das erste schwache Grau des Morgens.
«Na, Mr. Grubb?»
Der Master schürzte die Lippen, nickte aber.»Die Peilung stimmt, Sir. Unwahrscheinlich, daß sich ein anderes englisches Kriegsschiff hier aufhält.»
Wütend wie ein Tier in der Falle fixierte Herrick die wogende Wasserwüste.»Ist inzwischen eines unserer Schiffe wieder in Sicht gekommen?»
«Ich habe die Ausguckposten schon vergattert, Sir«, berichtete Wolfe.»Aber noch gibt es nichts zu melden.»
Wieder hörte Herrick das ferne Krachen, das wie Donner mit dem Wind heranrollte. Ja, das waren zwei Schiffe. Trotz des Sturms im Gefecht miteinander, weil sie sich wahrscheinlich rein zufällig begegnet waren.
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