Nach einer Weile, während der sie still nebeneinandersaßen, fing Mirinri wieder an: »Hast du eine Ahnung, ob dieses Verlies groß ist?«
»Ich glaube, sehr groß.«
»Wird sich denn niemand hier unten blicken lassen? Sollen wir Hungers sterben?«
Nefer blieb stumm. Er fühlte, daß sie heftig zu zittern begann. »Was denkst du? Sag, warum bebst du?«
»Ich habe Angst vor jenem Greis, der uns hier eingesperrt hat! Er ist fast mächtiger als der König ... Meine Hand war doch so sicher, als ich den Dolch führte ... Und doch war der Stich nicht tief genug! Er ist nicht daran gestorben.«
»Meinst du den Oberpriester im Tempel der Schatten?«
»Ja, er muß leben! Im Augenblick deiner Verhaftung habe ich deutlich seine Stimme gehört!«
»Vielleicht hast du dich doch getäuscht. Im Alter heilt ein Dolchstich nicht so leicht. Ich fürchte mehr den Usurpator.«
Wieder schwiegen sie.
»Was mögen Unis und Ata und ihre Anhänger machen?« nahm Nefer nach einer Pause den Gesprächsfaden wieder auf. »Sicher wird ihnen die Nachricht von unserer Gefangennahme zu Ohren gekommen sein.«
»In meiner schlimmen Lage hatte ich wirklich für einen Augenblick die treuen Freunde meines Vaters vergessen. Werden sie einen Staatsstreich versuchen und das Volk für mich aufwiegeln? ...Gerade jetzt, wo ich nach dem Königssymbol greifen wollte, mußte ich in den Abgrund versinken ... All die Vorzeichen haben gelogen!« rief er bitter.
»Verzweifeln wir noch nicht, warten wir den Morgen ab! Du weißt nicht, was König Pepi beschließen wird. Vielleicht hast du eine mächtige Beschützerin am Hof.«
Mirinri antwortete nicht. Er legte sich auf eine große Strohmatte, die er beim Umhertasten gefunden hatte. Nefer folgte seinem Beispiel, indem sie sich neben ihn kauerte.
Die Stunden vergingen ihnen langsam ...
Kein anderes Geräusch drang an ihr Ohr als der gleichmäßige Ton von leise sickernden Wassertropfen. Man hörte nicht einmal den Ruf der sich draußen ablösenden Wachen.
Endlich schien die Nacht ein Ende zu nehmen. Ein blasser Lichtschimmer, der immer weiter in den unterirdischen Raum drang, verkündete den Sonnenaufgang.
Bei diesem Anblick war Mirinri aufgesprungen. Er schaute sich erregt um: Durch zwei kleine, vergitterte Fenster oben unter der Decke kam der matte Schein. Die Wände des weiten Raumes waren noch nicht zu erkennen. Nur der Fußboden glänzte, als ob er aus Marmor wäre.
»Ob wir uns wirklich im Pharaonenschloß befinden?« fragte Mirinri seine Leidensgefährtin, die sich ebenfalls erhoben hatte.
»Kein Zweifel!« antwortete diese. »Ich erinnere mich, einmal als Kind hier mit andern fürstlichen Kindern Versteck gespielt zu haben. Aber horch! Was ist das? War das nicht der Ruf einer Wache?«
»Suchen wir den Ausgang, Nefer ... Sieh! Ist dort nicht eine Tür?«
»Und wenn du all deine Kraft zusammennähmest, du würdest sie nicht öffnen können.«
»Aber vielleicht steht ein Wächter dahinter, der unsere Fragen beantworten kann.«
»Versuch es!«
Er näherte sich der schweren Bronzetür und schlug mit den Fäusten dagegen.
Als er zum fünften Mal geschlagen hatte, hörte man Kettengerassel. Die schweren Riegel wurden zurückgeschoben, Licht drang ein, und ein alter, einarmiger Soldat erschien auf der Schwelle. An seiner Hüfte hing eine jener schrecklichen, sichelförmigen Waffen, die mit einem Hieb dem Gegner den Kopf vom Rumpf trennen konnten.
»Was soll das Pochen bedeuten?« fragte er energisch. »Du bist ein Gefangener!«
»Ich möchte nur wissen, wo ich mich befinde.«
»In den unterirdischen Räumen des Königspalastes«, antwortete der andere schon milder.
»Sag, was will man von mir und dieser jungen Pharaonin hier?« Erstaunt blickte der Alte auf Nefer, die sich schweigend genähert hatte. »Das sollte eine Prinzessin sein?«
»Sieh hier!«
Mit diesen Worten lüftete Mirinri den Schleier, der auf Nefers Schulter lag, und zeigte die Tätowierung.
Der Soldat stutzte.
»Du bist bejahrt und wirst an manchen Schlachten teilgenommen haben«, fuhr Mirinri fort. »Vielleicht auch an jenem Entscheidungskampf, der die Chaldäerhorden für immer aus unserem Land vertrieb?«
»Gerade dabei habe ich meinen linken Arm verloren!« sagte der Soldat, der an der empfindlichsten Stelle berührt war. »Damals hat uns Teti der Große zum Sieg geführt.«
»Du hast ihn also gekannt?« fragte Mirinri erregt. »Schau mich an! Ich bin sein Sohn!«
Der Krieger stand wie vom Donner gerührt. »Du... des großen Königs Sohn?«
Dann trat er näher und sah Mirinri prüfend an. »Ja, es sind seine Züge, seine Haare, seine blitzenden Augen ... sogar das Grübchen am Kinn. Er hatte ein Kind hinterlassen, das dann verschwand. Man sagte, es sei tot...«
»Treue Freunde meines Vaters hatten mich entführt, da man fürchtete, daß ich durch List aus dem Weg geschafft werden sollte!«
»Auch davon habe ich gehört«, murmelte der Veteran, der sich noch immer nicht von seinem Erstaunen erholen konnte. »Im Heer lief das Gerücht um ... Herr«, fuhr er mit bewegter Stimme fort, »wenn ich dem Sohn des großen Königs, der Ägypten gerettet hat, helfen kann, so will ich es tun. Für Teti lasse ich noch heute mein Leben!«
»Du kannst mir im Leben nützlicher sein als im Tod. Weißt du, zu welchem Zweck mich der König hier gefangen hält?«
»Ich weiß es nicht, Herr. Als ihr beide gestern abend kurz vor Sonnenuntergang hergeschafft wurdet, übergab man mir die Wache mit dem Auftrag, euch zu töten, falls ihr die Flucht versuchen wolltet. Ich bin aber nicht allein. Andere Wächter stehen oben am Ende der Treppe, hinter der zweiten Bronzetür.«
»Sind sie unbestechlich?«
»Es sind junge Soldaten, Herr, die den Sieger über die Chaldäer nie gekannt haben.«
»Vergiß nicht, daß du im Palast vielleicht doch eine Beschützerin hast«, wandte sich Nefer jetzt an Mirinri. »Dieser Krieger könnte sie heimlich verständigen.«
»Wer ist es?« fragte der Alte.
»Die Königstochter Nitokris. Sie ahnt sicher nicht, wo man uns hingebracht hat! – Darfst du deinen Posten hier verlassen?«
»Ich habe ja das Kommando über die Wächter.«
Nach einigem Überlegen fügte der Veteran hinzu: »Gut, geht jetzt ruhig in euer Verlies zurück und versucht nicht, wieder Lärm zu schlagen! So rate ich euch. Alles weitere werde ich veranlassen.«
»Können wir dir gänzlich vertrauen?«
»Ich schwöre bei Ra, der Königstochter Nachrichten zukommen zu lassen! Meine Enkelin ist im Schloß angestellt.«
Daraufhin ließen sich die beiden Gefangenen wieder einschließen.
Die Sonne mußte inzwischen aufgegangen sein. Ihr Schein erhellte nun mehr und mehr den Raum, aber er war trotzdem fahl und kalt. Die Entfernung der Wände war ungeheuer.
Nach einer langen Weile, während der die beiden Gefangenen still nebeneinandersaßen, ließ sich wieder das Klirren der Ketten und der Lärm der eisernen Türriegel vernehmen. Mirinri schreckte aus seinen Gedanken empor. Sollte es der alte Krieger oder ein anderer Wächter sein? »Wenn ich nur eine Waffe hätte«, flüsterte er.
Die Bronzetür öffnete sich, und der einarmige Veteran erschien, begleitet von zwei jungen Wächtern. Letztere setzten zwei Körbe aus Palmblättern auf den Steinboden.
»Es sind Lebensmittel«, sagte der Alte, indem er einen bedeutsamen Blick erst auf Mirinri, dann auf den rechts stehenden Korb warf.
Ohne etwas hinzuzufügen, ging er mit den beiden jungen Männern hinaus.
Als die schwere Tür wieder ins Schloß gefallen war, hob Mirinri rasch das Tuch, das den bezeichneten Korb verdeckte. Da lagen Maisbrötchen, gebackene Fische, Pasteten und Früchte. Nichts anderes.
»Ich hoffte, etwas Wichtiges unter den Vorräten zu finden«, sagte er entmutigt. »Aber der Alte scheint uns angeführt zu haben. Hast du nicht auch seinen Blick bemerkt?«
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