Doch wer war nun diese von der Vorsehung geschickte Dame? War der Findling durch besondres Glück in Hände gefallen, die sich für immer über ihn breiten sollten?
Miß Anna Walston war es, die erste Heldin des Drury-Lane-Theaters, eine Art Sarah Bernhardt, auf der Tournee, welche augenblicklich am Theater zu Limerick, in der gleichnamigen Grafschaft der Provinz Munster, Vorstellungen gab. Eben hatte sie eine mehrtägige Erholungsreise durch die Grafschaft Galway gemacht, wobei ihre Kammerfrau sie begleitete. Die wortkarge Elisa Corbett war übrigens eine ebenso mürrische, wie treuergebene Freundin ihrer Herrin
Die Schauspielerin war eine vortreffliche, beim Publicum ungemein beliebte Dame, die sich für alles lebhaft interessierte und Herz und Hand stets offen hatte, während sie sich ihrer Kunst mit heiligem Ernste widmete und eifrigst bemüht war, ihren Ruhm nicht durch einen Schnitzer aufs Spiel gesetzt zu sehen.
Miß Anna Walston, die jedermann in allen Grafschaften des Vereinigten Königreichs kannte, wartete nur auf die passende Gelegenheit, sich in Amerika, in Indien und Australien, d. h. überall, wo die englische Sprache vorherrschte, neue Lorbeeren zu pflücken, denn sie war es müde, da zu glänzen, wo ihr jede Anerkennung mühelos zu Theil wurde.
Vor drei Tagen war sie, müde der fortwährenden Anstrengungen bei den Trauerspielen, in denen sie im letzten Acte regelmäßig sterben mußte, hierher gekommen, um die reine und stärkende Luft von Galway zu genießen. An jenem Abende wollte sie sich eben nach dem Bahnhofe begeben, um nach Limerick zurückzufahren, wo sie am nächsten Tage aufzutreten hatte, als ihre Aufmerksamkeit durch laute
Hilferufe und den Widerschein von Feuer erweckt wurde. Die Ragged-School stand in hellen Flammen.
Eine Feuersbrunst! Wie hätte sie dem Verlangen widerstehen können, einer solchen, die sich von den zahmen Bränden auf der Bühne so gewaltig unterschied, mit beizuwohnen! Auf ihr Geheiß und trotz des Widerspruchs Elisas hatte der Wagen an der nächsten Ecke gehalten, und Miß Anna Walston beobachtete die verschiedenen Stadien dieses Schauspiels, das denen, die die Feuerwehrleute hinter den Coulissen mit wachsamem Auge beobachteten, so wesentlich überlegen war. Hier sanken die Versetzstücke thatsächlich zusammen und unter ihnen stand alles in leibhaftigem Feuer.
Der Verlauf des Unglücks entbehrte auch sonst nicht des spannenden Interesses. Zwei menschliche Wesen waren in einer Dachkammer eingeschlossen, deren Treppenzugang schon in Flammen stand und die keinen andern Ausweg bot. Zwei Knaben, ein großer und ein kleiner. vielleicht wäre ein gefährdetes kleines Mädchen noch interessanter gewesen. Wie herzzerreißend schrie Miß Anna Walston da auf. Sie wäre den beiden wohl selbst zu Hilfe geeilt, wenn ihr weiter Staubmantel sich nicht gar so leicht selbst entzündet hätte. Da öffnete sich übrigens schon das Dach neben der Bodenkammer. Die beiden Unglücklichen erschienen inmitten der Rauchwolken, wobei der Große den Kleinen trug.
Ah! Der Große! Welcher Held und in welcher künstlerischen Pose zeigte er sich! Das war der Ausdruck unnachahmlicher Wahrheit!. Der arme Große! Er hatte wohl keine Ahnung davon, welchen Effect er hervorbrachte. Und der andre. der nice Boy! Der hübsche Junge! rief Miß Anna Walston wiederholt, das ist ein Engel, der aus den Flammen der Hölle kam!. Wahrlich, Findling, das war wohl das erste Mal, daß Du mit einem Cherub oder einem andern Muster der himmlischen Heerschaaren verglichen wurdest!
Ja, diese Inscenierung hatte Miß Anna Walston bis in jede Einzelheit verfolgt. Wie auf der Bühne rief sie: »Mein Geld, meinen Schmuck, alles was ich besitze dem, der sie rettet!« Doch niemand hatte an den glühenden Wänden und auf das prasselnde Dach hinaufklimmen können. Endlich war der Cherub von ein paar offenen Armen aufgefangen worden und von da in die Arme der Miß Anna Walston übergegangen.. Jetzt besaß der kleine Knabe plötzlich eine Mutter, von der die Leute meinten, es müsse eine große Dame sein, die ihr eignes Kind im Brande der Ragged-School entdeckt hätte.
Nachdem sie die Umstehenden mit einer Verneigung begrüßt und von diesen bejubelt worden, war Miß Anna Walston mit ihrem Schatze verschwunden, was auch die Kammerfrau dagegen einwenden mochte. Von einer fünfundzwanzigjährigen Schauspielerin mit warmen Gefühlen und etwas freien Anschauungen durfte man da nicht verlangen, daß sie ihrer Eingebung Zügel anlegte und sich immer auf goldner Mittelstraße hielt, wie die siebenunddreißigjährige, blonde, kalte und nörgelige Elisa Corbett, die schon mehrere Jahre im Dienste ihrer etwas phantastischen Herrin stand. Die Schauspielerin dagegen glaubte sich immer auf den Brettern zu befinden und wurde sozusagen stets von ihrem Repertoire beherrscht. Ihr gestalteten sich die gewöhnlichsten Vorkommnisse des Lebens zu »Situationen«, und wenn eine solche einmal gegeben war..
Natürlich traf der Wagen rechtzeitig am Bahnhofe ein und der Kutscher erhielt seine versprochne Guinee. Und jetzt konnte sich Miß Anna Walston, die mit Elisa ein Coupe allein einnahm, allen den Pflichten widmen, die das Herz einer wirklichen Mutter nur zu dictieren vermocht hätte.
»Es ist mein Kind!. Mein Blut. mein Leben! erklärte sie, niemand soll mir ihn wieder rauben!«
Es hätte ja auch kein Mensch daran gedacht, ihr diesen kleinen Verlassnen wieder abzunehmen.
Elisa freilich bemerkte dazu:
»Wir werden ja sehen, wie lange es dauert!«
Der Zug rollte mit mäßiger Geschwindigkeit nach dem Kreuzungspunkte von Artheury, durch die Grafschaft Galway dahin, die er mit der Hauptstadt Irlands verbindet. Während dieses ersten kurzen Theiles der Fahrt war der kleine Knabe nicht wieder zur Besinnung gekommen, obwohl sich die Schauspielerin darum in jeder Weise bemühte.
Miß Anna Walston beschäftigte sich zuerst damit, ihn umzukleiden, und nahm ihm die von Rauch geschwärzten Lumpen ab, bis auf die noch ziemlich gut erhaltene wollene Jacke, während sie ihn sonst von ihren eignen Kleidungsstücken anpaßte, was sich nur dazu verwenden ließ, und ihn mit ihrem kostbaren Shawle zudeckte. Das Kind schien aber gar nicht zu bemerken, daß es jetzt warme Hüllen trug und ein noch wärmeres Herz, das für ihn sorgte, gewonnen hatte.
An der Kreuzungsstelle wurde ein Theil des Zuges abgekoppelt und nach Kilkree, an der Grenze der Grafschaft Galway, übergeleitet, wo ein halbstündiger Aufenthalt stattfand. Auch während dieser Zeit war der kleine Knabe noch nicht wieder zum Bewußtsein gekommen.
»Elisa. Elisa!. rief Miß Anna Walston, wir werden uns erkundigen müssen, ob sich nicht vielleicht ein Arzt im Zuge befindet.«
Elisa that das, obgleich sie ihrer Herrin versicherte, daß es sich kaum der Mühe lohne.
Ein Arzt fand sich nicht.
»O, diese Unmenschen. jammerte Miß Anna Walston, man trifft sie nie da, wo sie sein sollten!
- Aber ich bitte Sie, Madame, dem Jungen fehlt ja gar nichts; der wird schon wieder zu sich kommen, wenn Sie ihn nicht ersticken..
- Glaubst Du, Elisa?. Das herzige Kind!. Ich weiß nicht, wie mir ist, ich habe ja noch nie ein Kind gehabt!. Ach, wenn ich ihn selbst hätte nähren dürfen!«
Das war freilich unmöglich, und übrigens stand der kleine Knabe in den Jahren, wo man nach einer festeren Nahrung verlangt.
Der Zug durchflog die Grafschaft Clare - jene Halbinsel zwischen der Bai von Galway im Norden und der langen breiten Ausmündung des Shannon im Süden - einen Landstrich, den man hätte zur Insel umgestalten können, wenn ein kaum fünfzig Kilometer langer Canal am Fuße der Slieve-Sughty ausgehoben worden wäre. Die Nacht war dunkel und es wehte ein ziemlich scharfer Westwind - ein Himmel, wie er zur Situation paßte.
»Ach, der Engel erholt sich nicht wieder! rief Miß Anna Walston immer wieder.
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