»Wo ist denn Grip?
- Wer ist denn Grip, mein Babish?« antwortete Miß Anna Walston.
Jetzt erfuhr sie erst etwas über Grip Ohne ihn wäre der kleine Knabe in den Flammen umgekommen. Das war schön, war lobenswerth von diesem Grip. Sein Heroismus aber - man liebte dieses Wort für seine That - konnte doch das Verdienst nicht schmälern, das der gefeierten Künstlerin bei diesem Rettungswerke zukam. Wenn sich die vortreffliche Frau nun nicht an der Brandstelle befunden hätte, was wäre da aus dem kleinen Burschen geworden? In welche Höhle hätte man ihn mit den andern Taugenichtsen der Lumpenschule eingepfercht?
In der That hatte sich bisher niemand um Grip bekümmert und keiner verlangte danach, etwas von ihm zu hören. Auch der kleine Knabe würde ihn schließlich vergessen und nicht mehr von ihm sprechen. Das war jedoch ein Irrthum; nie verblich in seinem Herzen das Bild dessen, der ihn ernährt und beschützt hatte.
Dem Adoptivkinde der Schauspielerin fehlte es jetzt auch nicht an Unterhaltung und Zerstreuung jeder Art. Er begleitete Miß Anna Walston bei ihren Spazierfahrten und saß neben ihr im Wagen, wenn jene durch die schönsten Theile von Limerick zu der Stunde fuhr, wo die feinere Welt sie sehen konnte. Dazu putzte sie den Knaben in jeder Weise heraus, so daß er einmal in schottischer Nationaltracht, einmal als Page und dann wieder als phantastischer Schiffsjunge erschien. Er vertrat fast die Stelle eines Schoßhündchens der Schauspielerin, die ihn, wenn er klein genug gewesen wäre, in ihren Muff gesteckt hätte, um nur dessen krauslockigen Kopf herausgucken zu lassen. Gelegentlich durchstreiften beide auch die Stadt oder lustwandelten bis zu den Badeplätzen von Kilkree mit ihren großartigen Uferfelsen an der Küste von Clare und nach Miltow-Malbay mit seinen gefährlichen Klippen, woran einst ein Theil der unbesiegbaren Armada zerschellte. Dabei stellte die glückliche Pflegemutter den kleinen Knaben immer nur als den »aus den Flammen geretteten Engel« vor.
Einige Male führte man ihn auch ins Theater, wo er - mit Handschuhen angethan! - in einer Loge des ersten Ranges unter dem strengen Auge Elisas thronte, sich kaum zu rühren wagte und bis zum Schluß der Vorstellung. nur gegen das Einschlafen ankämpfte.
Natürlich ohne Verständniß für die Schauspiele selbst, hielt er doch alles, was er sah, für die reine Wahrheit. Wenn Miß Anna Walston einmal im Prunke einer Königin erschien, dann wieder als Frau aus dem Volke oder gar als in Lumpen gekleidete Bettlerin, so konnte er gar nicht glauben, daß sie es war, die er im Royal-George-Hötel wiedertraf. Das verwirrte seine kindliche Phantasie; er wußte nicht mehr, was er denken sollte. Er träumte davon in der Nacht, als spänne sich das seltsame Schauspiel weiter fort, und dann keuchte er unter schwerem Alpdrücken, wobei der Puppenschausteller, der bösartige Carker und die andern Schlingel aus der Lumpenschule eine Rolle spielten. Und wenn er dann schweißdurchnäßt erwachte, wagte er nicht zu rufen..
Die Irländer sind leidenschaftliche Liebhaber allen Sports, vorzüglich der Pferderennen.
Auch jener Zeit strömte nach Limerick einmal aus gleicher Ursache die ganze »Gentry« der Umgebung zusammen, ihr schlossen sich die Landleute an, die ihre Höfe verließen, und sogar die Aermsten jeder Art, denen es nur gelungen war, sich einen Schilling oder halben Schilling abzusparen, um diesen auf ein Pferd zu verwetten.
Der Findling wurde ebenfalls zu diesem Feste mitgenommen, aber geschmückt, saß er schon mehr einem Blumenstrauß glich, den Miß Anna Walston von ihren Freunden bewundern, ja fast auffangen ließ.
Die Künstlerin war etwas extravaganter Natur, doch gut und wohlthätig, wo sie das wenigstens in mehr Aufsehen erregender Weise bethätigen konnte. Waren die Zärtlichkeiten, womit sie das Kind überhäufte, sichtlich theatralischer Art und glichen die ihm gegebenen Küsse nur Bühnenküssen, so konnte der Findling den Unterschied ja nicht wahrnehmen. Immerhin fühlte er sich nicht so geliebt, wie er es gewünscht hätte, und vielleicht sagte er sich unbewußt, was Elisa nicht selten wiederholte:
»Wer weiß, wie lange es dauern wird, wenn es überhaupt andauert!«
Siebentes Capitel
Eine gefährdete »Situation«
Sechs Wochen verflossen unter diesen Verhältnissen, und niemand wird es wundern, daß sich der Findling an dieses angenehme Leben gewöhnte. Wer das Elend erdulden gelernt hat, wird noch leichter das Wohlleben ertragen. Dagegen blieb es fraglich, ob Miß Anna Walston's warme Empfindung für den Knaben sich mit der Zeit nicht abkühlen würde. Gefühle unterliegen ja ebenso dem Gesetze der Trägheit wie greifbare Körper: erhält man die Triebkraft nicht länger, so kommen sie zum Stillstand. Sie war jener Zeit nur einer »Rührung« verfallen, wie sie durch manche Scene auf der Bühne die Zuschauer gefangen nehmen. Und dennoch durfte man nicht glauben, daß das Kind für sie nur den Werth eines Zeitvertreibs, eines Spielzeugs oder einer Reclame hatte, denn sie war von Natur wirklich gutherzig angelegt. Wenn sie auch weiter für den Kleinen sorgte, so wurden ihre Liebkosungen doch kürzer, ihre Aufmerksamkeiten seltner. Dazu kommt die starke Inanspruchnahme einer Schauspielerin, die ihre Rollen zu lernen, viele Proben zu besuchen hat, und der die Vorstellungen kaum einen Abend frei lassen. Das strengt ja schließlich an. In den ersten Tagen hatte sie sich den Cherub früh an ihr Bett bringen lassen, wo sie mit ihm wie ein »Mütterchen« spielte.
Das störte aber ihren gewöhnlich lang ausgedehnten Morgenschlummer und so verlangte sie sehr bald das Kind erst beim Frühstück. Wie freute der Kleine sich, auf einem eigens für ihn beschafften hohen Stuhle zu sitzen, und wie schmauste er mit vortrefflichem Appetit!
»Na, mein Junge, so ist's hübsch, nicht wahr? fragte sie.
- Ach ja, Miß Anna, erwiderte er eines Tages, so gut wie das, was wir im Hospiz bekamen, wenn wir krank waren.«
Der Findling hatte eine feinere Lebensart eben noch nicht gelernt - weder Thornpipe noch O'Bodkins hätte ihm diese ja lehren können - er war sonst zurückhaltender Natur, sanften und liebevollen Charakters und, wie wir wissen, so ganz anders als die verwahrlosten Zöglinge der Ragged-School. Wie seinem Alter, war er aber auch nach geistiger Seite weit voraus, und Miß Anna Walston konnte das nicht entgehen. Von seiner Vergangenheit wußte sie freilich nur das, was er ihr darüber seit seiner Befreiung aus den Händen des Marionettenschaustellers erzählen konnte. Jedenfalls war er also ein Findelkind. Seine »angeborne Vornehmheit«, wie sie es nannte, bestärkte in der Künstlerin jedoch den Glauben, daß er der Sohn einer großen Dame sein müsse, wie das in Dramen ja so gewöhnlich ist, ein Sohn, von dem jene sich ihrer gesellschaftlichen Stellung wegen habe lossagen müssen. Daraufhin dichtete sie sich über ihren Schützling einen ganzen Roman zusammen, der übrigens nicht einmal mehr den Reiz der Neuheit hatte. So ersann sie gewisse »Situationen«, die in dramatischer Bearbeitung einen starken Thräneneffect erzielen würden. Sie wollte in diesem Stücke spielen, sie versprach sich davon einen ungewöhnlichen Erfolg. sie würde sich darin hinreißend. himmlisch zeigen u. s. w. Und als sie in Gedanken so weit gelangt war, da ergriff sie ihren Engel, umarmte ihn stürmisch, ganz wie auf der Bühne, und glaubte schon den jubelnden Beifall der Zuschauer zu hören.
Eines Tages sagte da der Findling, dem die Sache unheimlich zu werden anfing:
»Miß Anna?.
- Was willst Du, mein Herzchen?
- Ich möchte Sie etwas fragen.
- So frage nur, mein Schatz.
- Sie werden mir darum nicht böse?
- Ich. Dir böse werden?
- Jeder hat doch wohl eine Mutter?
- Natürlich, mein Engel, hat jedes Kind eine Mutter.
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