»Wir haben höchstens noch zwei Minuten …«, überlegte Wenja schnell, der die Antwort offenbar überhört hatte. Er erinnerte sich – »Sanjok, lass es.« »Lass es« war seine Lieblingsformulierung, die viele Bedeutungen hatte; diesmal bedeutete sie: »Jetzt werde ich’s dir zeigen!« – »Dort lief vor uns ein Sportler, ein Läufer. Ein Leichtathlet, nicht wahr. Ein Lauf am Sonntagmorgen. Er lief als Erster in die Sondereinheit. In roten Hosen. Ach, sie haben ihn sofort verdroschen. Einfach Debile, Scheiße nochmal. Der Typ tat was für die Gesundheit.«
Schritte waren zu hören, und Wenja erstarrte mit einem Grinsen im Gesicht, Sascha wollte sich, warum auch immer, hinsetzen oder sogar hinlegen.
Ljoscha Rogow kam in den Hof gelaufen – ein Junge irgendwo aus dem Norden. Aus Sewerodwinsk oder so.
Sie kannten sich noch kaum, doch Sascha akzeptierte Ljoschka schon – er schätzte seine dezidierte, unerschütterliche Ruhe.
»Was steht ihr da rum?«, fragte Ljoscha mit ruhiger Stimme.
»Sind die Bullen schon da?«, beantwortete Sascha die Frage mit einer Gegenfrage.
»Es sind noch hundert Meter bis zu ihnen. Ist das eine Sackgasse [38] die Sackgasse – тупик
? Im Nachbarhof ist offenbar ein Durchgang. Ich bin gestern hier rumgelaufen.«
Die Straße versetzte sie mit all ihrem Chaos und ihrer Verwüstung noch immer in Erstaunen.
»Sie haben einen Wagen angezündet!«, freute sich Wenja.
Die Luft war erfüllt von Hundegekläff, Sirenen und Pfiffen.
Sascha bemerkte noch zwei weitere umgestürzte Autos, eines davon – siebzig Meter die Straße hinunter, brannte sogar. Alle hielten Abstand zu ihm. Vermutlich deshalb kam auch keine Polizei, man befürchtete eine Explosion.
Das zweite schaukelte zehn Meter entfernt von ihnen auf dem Dach liegend.
Daneben tanzte zur Alarmanlage, die immer wieder in Geheul überging, eine Pennerin – dreckiges Gesicht und feuchte Lippen, als wären ihre Wangen nach außen gekehrt. Das Weib grinste, öffnete den zahnlosen Mund.
Nicht weit entfernt stand ein junger Mann mit Aktenkoffer, der aus irgendeinem Grund Schlüssel in der Hand hielt.
»Es ist sein Auto«, erriet Sascha.
Wenja blieb einen Moment lang stehen: »Hör mal, Landsmann!«, rief er den jungen Menschen, der sein Gesicht nervös verzog. Er drehte sich um.
»Schalt die Sirene aus, das nervt«, bat Wenja, grinste und machte mit dem Daumen eine Geste, als würde er eine Alarmanlage ausschalten.
Sie stürzten in den Hof, rannten, über die Bänke springend, an Pavillons und Rutschen des Kinderspielplatzes vorbei. Fast im Flug streifte Sascha das rostige Skelett der Schaukel und hörte einige Sekunden lang hinter seinem Rücken deren rhythmisches Ächzen.
Hinter den Jungs liefen drei Milizionäre schweren Schritts und forderten sie drohend auf, stehenzubleiben. Sascha, der sich auf den Ruf hin umdrehte, sah, dass der erste von ihnen dem Schäferhund kaum nachkam, den er unter Mühen [39] unter Mühen – с трудом
an der Leine festhielt.
»Lassen sie den Hund von der Leine oder nicht?«, überlegte Sascha befremdet, als ginge es dabei nicht um ihn. Er entschied, sich nicht mehr umzudrehen.
Die Jungs liefen aus dem Hof zur Straßenbahnhaltestelle, an der nur ein paar Menschen standen – allzu gern hätten sie sich in der Menge verloren.
Von der Haltestelle fuhr eine Straßenbahn ab. Sie liefen ihr hinterher und holten sie nach dreißig Metern ein.
Wenja rannte als Erster und winkte freudig mit den Händen, er rief etwas Unverständliches und machte dabei wütende Zeichen Richtung Straßenbahnfahrerin, deren zufriedenes Gesicht im Rückspiegel aufblitzte.
Die Straßenbahn hielt an, die mittleren Türen des Waggons öffneten sich, die Jungs stürzten in die Tram, Ljoscha Rogow eilte sofort zur Kabine der Straßenbahnfahrerin. Sascha bemerkte, wie er zur Fahrerin etwas sagte, einen Geldschein hinschob, sich entschuldigte und die Tür schloss. Die Tram setzte sich in Bewegung.
Aus dem Hof kamen die Milizionäre gelaufen, an ihren Bewegungen sah man, dass sie sofort errieten, wohin die Flüchtenden verschwunden waren.
Wenja zeigte den wütend Gestikulierenden beide Mittelfinger – plötzlich hielt die Tram ruckartig an.
Die vordere Tür öffnete sich und es stiegen fünf oder sechs Männer der Sondereinheit ein.
Wenja drückte den Notfallknopf, die Tür öffnete sich langsam und mit unzufriedenem Knarren; die brutalen Monster waren schon da und begannen, Wenjas Kopf gegen die Haltestange zu schlagen.
Sascha hielt sofort die Hände über den Kopf. Mit kräftigen Fußtritten stießen sie Sascha auf die Straße.
Auf der Straße schlugen sie ihn – kraftvoll im Genick gepackt – mit dem Kopf gegen die Tram. In den Augen flogen leichte rote Funken. Es war zu ertragen …
Sie stellten die Jungs als »Wäschespinne« auf – zwangen sie, die Hände hinter den Kopf zu legen, die Stirn gegen das Metallgehäuse der Tram zu drücken, und die Beine maximal weit auseinander zu stellen. Damit es besonders weit war, schlugen sie ihnen auch einige Male gegen die Beine.
Die Sondereinheitler wollten natürlich mehr. Sie hatten die Fliehenden äußerst elegant eingefangen, jetzt kochte rohe Wut in jedem von ihnen [40] … kochte rohe Wut in jedem von ihnen – дикая ярость кипела в каждом из них
– eigentlich sollte jeder Gefangene sofort in Stücke gerissen werden. Nur die neugierigen Gesichter einiger Passagiere, die sich ans Fenster der Tram drückten, hinderten die Häscher daran, die Arme reihenweise auszurenken. Sie traten nervös von einem Bein aufs andere, drückten an den Gummiknüppeln herum, verzogen die Gesichter.
Den Kopf ein wenig zur Seite gedreht, sah Sascha, dass Wenja und Rogow unweit von ihm standen – breitbeinig wie er selbst.
Der Motor sprang an, und der Bus, der die Gleise versperrte, setzte zurück.
»Na, was jetzt, alle einladen?«, war eine Stimme zu hören. »Eine Revolution, verdammte Scheiße, wir bringen euch schon bei, was das heißt.«
»Was, Hundesohn? Eine Revolution willst du?«, wurde irgendwo in Saschas Nähe gebrüllt, doch es galt nicht ihm, sondern – offenbar – Wenja. »In einer halben Stunde wirst du das rote Blut der Revolution pissen!«
Ein Schlag donnerte nieder, noch einer. Jemand konnte sich nicht gedulden, drehte durch.
Sascha drehte den Kopf Richtung Wenja und erhielt sofort einen heftigen Schlag ins Genick; es war, als stünde jemand hinter ihnen [41] als stünde jemand hinter ihnen – словно кто-то стоял за ними
und wartete nur auf die Gelegenheit, zuzuschlagen.
»Hat man dir nicht gesagt, die Hände hinter den Kopf und nicht bewegen?«
Da kam noch ein weiterer Hund, samt ihm Milizionäre, deren Näherkommen schon aufgrund der immer lauter werdenden, unablässigen Mutterflüche zu erraten war.
Dem Kläffen und Herumgezerre nach zu schließen, konnten sie den Hund kaum zurückhalten. Völlig in sich zusammengesunken wartet Sascha jeden Moment darauf, dass ihm ein Stück vom Schenkel herausgebissen würde.
»Also, was diese Ratten da … aufführen!«, schimpfte einer der Milizionäre, schnaubend und nach Luft ringend. »Die ganze Straße haben sie verschissen … die Geschäfte … Autos … Die sind doch Ungeziefer … Man sollte diese Tiere gleich hier, auf der Stelle, erschießen! … Du, Dreckschwein, was machst du?«, wandte er sich an Wenja, der sich mit dem Kopf gegen die Tram stemmte. »Ha? Dich, du Rotznase, frage ich! Was du machst?«
»Ich stütze die Tram«, antwortete Wenja mit klarer und deshalb unglaublich frecher Stimme. Sascha grinste die rote Seitenwand der Tram an, die die verschwitzte Stirn angenehm kühlte.
»Ach, du …«, hörte Sascha die Stimme des Milizionärs, und da er verstand, dass Wenja jetzt geschlagen würde, schaute er abermals zur Seite. Ein Gummiknüppel, lang wie ein Schlauch, donnerte krachend auf den Rücken des Gefährten.
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