Der Abgeordnete trug einen schwarzen, elegant geschnittenen Mantel. Er nahm die Lammfellmütze ab – und stand vor dem Volk mit entblößtem Haupt. Einer aus seinem Fußvolk, das sich hinter dem Abgeordneten drängte, hielt die Mütze in Händen.
Vor der Tribüne waren Transparente mit unsinnigen Sprüchen platziert, die niemanden je zu einer Tat inspirieren würden.
Sascha kniff die Lider zusammen und las.
Es wurde ihnen nicht gestattet, aufzutreten. Die Zeit reiche nicht, stattdessen wurden sie mit sanftem Nachdruck gebeten, nicht länger die Treppe zur Tribüne zu besetzen. Sascha, der auf der vorletzten Stufe stand, schaute von unten nach oben auf den Organisator, der sich erleichtert von Sascha wegdrehte. Der Organisator stellte äußerte Geschäftigkeit zur Schau: »Kommt, Jungs, alles klar. Ein andermal.«
»Was ist mit Kostenko los?«, hörte Sascha im Hinuntergehen die sonore und eindringliche Stimme des Abgeordneten. Der Abgeordnete bemerkte die rote Binde mit dem aggressiven Symbol *auf Saschas Arm und gab die Frage an den Organisator weiter, der sich erleichtert von Sascha abgewandt hatte.
»Er sitzt.« In der Antwort schwang ein bissiger Unterton mit, der allerdings gleich verschwand, als der Abgeordnete gereizt erwiderte: »Dass er sitzt, weiß ich.«
»Es heißt, er bekommt fünfzehn Jahre«, antwortete der Organisator rasch und plötzlich voller Ernst, schon jetzt mit einem gewissen Bedauern über Kostenkos Schicksal.
Während der kurzen Augenblicke, die das Gespräch dauerte, stand Sascha reglos auf der Treppe des engen Aufgangs, er hörte ganz offenbar zu. Eine Stufe weiter unten wartete eine alte Frau, um zur Tribüne heraufzusteigen.
»Also was ist, gehst du jetzt runter, oder nicht?«, fragte sie mürrisch.
Sascha sprang vom Aufgang auf die Straße hinunter.
»Ihr könnt auch unten schreien«, rief sie Sascha noch hinterher. »Für euch ist es auf der Tribüne noch zu früh …«
Wenka, der unten auf Sascha gewartet hatte, verstand ohnehin alles und fragte nichts. Es schien ihm egal zu sein, ob sie auf die Tribüne gelassen wurden oder nicht.
In der Tasche bewegte Wenja einige Dutzend Knallkörper [15] einige Dutzend Knallkörper – несколько десятков петард
hin und her. Manchmal zog er sie einzeln heraus, drehte sie vor dem Gesicht, als würde er nicht verstehen, worum es sich dabei eigentlich handelte.
»Hast du nichts zu rauchen?«, fragte Saschka. »Ich hab dir doch gesagt …«
»Ja?« Wenja grinste verdutzt. »Und was hast du gesagt?«
Sie zwängten sich aus der Menge wieder heraus zu ihrer Kolonne, die schon angetreten war.
Jana, schwarzhaarig und in eleganter kurzer Jacke, deren Kapuze und Kragen mit Pelz eingefasst waren, ging die Reihen entlang und rief Kommandos. Sie trug blaue, unten leicht ausgestellte Jeans [16] unten leicht ausgestellte Jeans – слегка расклешенные внизу джинсы
, und sie sah bezaubernd aus.
Sascha wusste, dass sie Kostenkos Geliebte war.
Kostenko, ja, der saß im Gefängnis, in Untersuchungshaft [17] in Untersuchungshaft – под следствием
, er war wegen Waffenkauf verhaftet worden, nur ein paar Maschinenpistolen – doch sie, seine Meute, seine Herde, seine Bande, sie waren nervös in Formation angetreten [18] sie waren nervös in Formation angetreten – они выстроились нервными рядами
, die Gesichter hinter schwarzen Tüchern, mit schwitzender Stirn und tierischem Blick.
Es waren schwer einzuordnende, merkwürdige junge Männer, einzeln aus dem ganzen Land zusammengeholt, durch etwas Unbekanntes miteinander verbunden, durch eine Markierung, ein Mal, das ihnen seit der Geburt anhaftete.
Irgendwo war da auch Matwej – er war derjenige, der in Kostenkos Abwesenheit die Partei leitete. Allerdings stand Matwej heute nicht in der Kolonne, er schaute von der Seite zu.
Jana hob das Megaphon vors Gesicht und holte mit den Armen aus. Ihre Stimme löste sich sofort in einem einheitlichen Schrei auf, zu hören war nur der erste, angestimmte, glockenhelle Buchstabe.
Sascha stand noch neben der ersten Formation, er konnte seinen Platz nicht finden, während sich seine junge Herde schon zum Schrei geöffnet hatte – am Rand seines Blickfeldes sah er verschreckt auffliegende Tauben, den nervös zusammenzuckenden Offizier, der bei der Absperrung der Rekruten stand, die schon die Schlagstöcke in ihre saftlosen Hände nahmen. Sascha brüllte gemeinsam mit allen anderen – seine Augen waren erfüllt mit jener Leere, die den Schrei ermöglicht und seit je [19] seit je – во все века
dem Angriff vorausgeht. Sie waren siebenhundert Menschen, und sie schrien das Wort »Revolution«.
»Tischin!«, winkten sie ihm. »Komm hierher!«
Er stand in der ersten Reihe, links außen, neben Wenja, dessen verkaterte Augen, die noch kürzlich verkochten Pelmeni geglichen hatten, jetzt rot und fast angebraten aussahen, als wären sie in eine glühend heiße Pfanne gelegt worden.
»Geh weg, Oma!«, lachte Wenja.
Neben der Kolonne stand eine Alte, und in dem Moment, als die Kolonne für einige Momente verstummte, hörte Sascha ihre Stimme, die offenbar nicht zum ersten Mal ein und dasselbe wiederholte: »Idioten! Ihr seid Provokateure! Euer Kostenko sitzt absichtlich im Gefängnis, um berühmt zu werden! Euch haben die Jidden hierher geschickt!«
Ohne die Alte zu beachten, schritt Jana vorbei, in aller Schwärze, mit einem grellen und bloßen Gesicht, wie eine offene Wunde.
»Gottlose!« [20] »Gottlose!« – «Нехристь!»
, schrie ihr die Alte ins Gesicht, doch Jana war schon weg, es war ihr herzlich egal.
Die Großmutter inspizierte mit geschärften Äuglein die Kolonne und entdeckte Sascha.
»Die Juden haben sie geschickt«, wiederholte sie noch einmal. »Da, du bist ein Jud! Ein Jidd und ›SSler‹ *!«
Sascha wurde von dem, der hinter ihm stand, angestoßen, die Kolonne setzte sich in Bewegung [21] sich in Bewegung setzten – прийти в движение, начать двигаться
.
»Re-vo-lu-ti-on« wummerte und vibrierte es auf dem ganzen Platz; es überdeckte den Bass auf der Tribüne, die Gespräche der Miliz über Funk [22] die Gespräche der Miliz über Funk – переговоры милиции по рациям
, die Stimmen der übrigen Demonstranten.
»Sojus Sosidajuschtschich! *«, »Jungs« – wurde ihnen von der Tribüne zugerufen. »Ihr seid nicht zum Schreien gekommen. Kommt schon, könnt ihr euch einmal auch normal benehmen …«
Die Kolonne, die ihre schwarz-roten Flaggen schwenkte, bewegte sich Richtung Absperrung, vorbei an der Tribüne. Kompaktes, die Ohren mit stumpfem Schmerz erfüllendes, unglaubliches Gebrüll stand in der Luft.
»Den Präsidenten!«, schrie Jana mit gellender Stimme.
»In der Wolga ertränken!«, antworteten im Echo siebenhundert Kehlen [23] antworteten im Echo siebenhundert Kehlen – эхом откликнулись семь сотен глоток
.
»Den Gouverneur!«
»In der Wolga ertränken!«
»Also, Herrschaften, tut denn niemand etwas …«, warf der Auftretende hilflos ein, und das hier unpassende »Herrschaften« [24] Herrschaften – Господа
drang bis zu Sascha; es hätte ihn wohl dazu gebracht, zu grinsen, hätte er nicht selbst mit heiserer Stimme so sehr geschrien, dass schon seine Zähne kalt wurden: »Wir hassen die Regierung!«
Alles verfiel in den Rhythmus dieses Brüllens. Vom Schrei schwenkten die Türen der Metro auf und zu, imbTakt desbSchreies hetzten die grauen Jacken herum, zischten die Funkgeräte,bhupten die Autos.
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