Jeden Tag während zweier Monate fragte ich… aber nein, wozu diese Höllenqual [58] Höllenqual, f – мука
der Erwartung. Ich klage Dich nicht an, ich liebe Dich als den, der Du bist. Du warst längst zurück, ich sah es an Deinen erleuchteten Fenstern, und hast mir nicht geschrieben. Ich habe gewartet, ich habe gewartet wie eine verzweifelte [59] verzweifelte – отчаявшаяся
.
Aber Du hast mich nicht gerufen, keine Zeile hast Du mir geschrieben… keine Zeile…
Mein Kind ist gestern gestorben – es war auch Dein Kind. Es war auch Dein Kind, Geliebter, das Kind einer jener drei Nächte, ich schwöre es Dir, und man lügt nicht im Schatten des Todes. Es war unser Kind, ich schwöre es Dir, denn kein Mann hat mich berührt von jenen Stunden, da ich mich Dir hingegeben.
Es war unser Kind, Geliebter, das Kind meiner wissenden Liebe und Deiner sorglosen, fast unbewussten Zärtlichkeit, unser Kind, unser Sohn, unser einziges Kind. Aber Du fragst nun – vielleicht erschreckt, vielleicht bloß erstaunt, – Du fragst nun, mein Geliebter, warum ich dies Kind Dir alle diese langen Jahre verschwiegen und erst heute von ihm spreche! Doch wie hätte ich es Dir sagen können? Nie hättest Du mir, der Fremden, der allzu Bereitwilligen dreier Nächte geglaubt. Und dann, ich kenne Dich; ich kenne Dich so gut, wie Du kaum selber Dich kennst… Du hättest mich – ja, ich weiß es, dass Du es getan hättest, wider Deinen eigenen wachen Willen, – Du hättest mich gehasst für dieses Verbund.
Ich klage Dich nicht an, mein Geliebter, nein, ich klage Dich nicht an. Verzeih mir, wenn mir manchmal ein Tropfen Bitternis in die Feder fließt.
Ich weiß ja, dass Du gut bist und hilfreich im tiefsten Herzen, Du hilfst jedem, hilfst auch dem Fremdesten, der Dich bittet. Aber Deine Güte ist so sonderbar, aber sie ist – verzeih mir – sie ist träge [60] träge – ленивый
. Du hilfst, wenn man Dich ruft, Dich bittet, hilfst aus Scham, aus Schwäche und nicht aus Freudigkeit. Einmal, ich war noch ein Kind, sah ich durch das Guckloch an der Tür, wie Du einem Bettler [61] Bettler, m – нищий
etwas gabst. Du gabst ihm rasch und sogar viel, noch ehe er Dich bat, aber Du reichtest es ihm mit einer gewissen Angst und Hast hin, er möchte nur bald wieder fortgehen, es war, als hättest Du Furcht, ihm ins Auge zu sehen. Diese Deine unruhige, scheue, vor der Dankbarkeit flüchtende Art des Helfens habe ich nie vergessen. Und deshalb habe ich mich nie an Dich gewandt. Ich weiß, du hättest mir damals zur Seite gestanden auch ohne die Gewissheit, es sei Dein Kind, Du hättest mich getröstet, mir Geld gegeben, reichlich Geld, aber immer nur mit der geheimen Ungeduld, das Unbequeme von Dir wegzuschieben.
Aber dieses Kind war alles für mich, war es doch von Dir, nochmals Du, aber nun nicht mehr Du, der Glückliche, der Sorglose, den ich nicht zu halten vermochte, sondern Du für immer – so meinte ich – mir gegeben, verhaftet in meinem Leibe [62] Leib, m – тело
, verbunden in meinem Leben. Nun hatte ich Dich ja endlich gefangen, ich konnte Dich, Dein Leben wachsen spüren in meinen Adern [63] Adern, f, – n – вена
, Dich tränken, Dich liebkosen, Dich küssen, wenn mir die Seele danach brannte. Siehst du, Geliebter, darum war ich so selig [64] selig – счастливый, блаженный
, als ich wusste, dass ich ein Kind von Dir hatte, darum verschwieg ich Dir es: denn nun konntest du mir nicht mehr entfliehen. Geliebter, es waren nicht nur so selige Monate, wie ich sie voraus fühlte in meinen Gedanken, es waren auch Monate voll Grauen und Qual, voll Ekel vor der Niedrigkeit [65] Niedrigkeit, f – низость, подлость
der Menschen. Ich hatte es nicht leicht. In das Geschäft konnte ich während der letzten Monate nicht mehr gehen, damit es den Verwandten nicht auffällig werde und sie nicht nach Hause berichteten. Von der Mutter wollte ich kein Geld erbitten – so fristete [66] fristen – перебиваться
ich mir mit dem Verkauf von dem bisschen Schmuck, den ich hatte…
Eine Woche vorher wurden mir aus einem Schranke von einer Wäscherin die letzten paar Kronen gestohlen, so musste ich in die Gebärklinik [67] Gebärklinik, f – родильный приют
. Dort, wo nur die ganz Armen, die Ausgestoßenen und Vergessenen sich in ihrer Not hinschleppen, dort, mitten im Abhub [68] Abhub, m – объедки
des Elends, dort ist das Kind, Dein Kind geboren worden. Was die Armut an Erniedrigung, an seelischer und körperlicher Schande zu ertragen hat, ich habe es dort gelitten an dem Beisammensein [69] Beisammensein, n – наравне
mit Dirnen und mit Kranken, die aus der Gemeinsamkeit des Schicksals eine Gemeinheit machten, an der Zynik der jungen Ärzte, die mit einem ironischen Lächeln der Wehrlosen [70] wehrlos – беззащитный, незащищённый
das Betttuch aufstreiften und sie mit falscher Wissenschaftlichkeit antasteten, an der Habsucht [71] Habsucht, f – алчность
der Wärterinnen. Die Tafel mit deinem Namen, das allein bist dort noch du, denn was im Bette liegt, ist bloß ein zuckendes Stück Fleisch, betastet von Neugierigen, ein Objekt der Schau und des Studierens – ah, sie wissen es nicht, die Frauen, die ihrem Mann, dem zärtlich wartenden, in seinem Hause Kinder schenken, was es heißt, allein ein Kind zu gebären! Und lese ich noch heute in einem Buche das Wort Hölle, so denke ich plötzlich wider meinen bewussten Willen an jenen vollgepfropften [72] vollgepfropften – битком набитый
Saal.
Verzeih, verzeih mir, dass ich davon spreche. Aber nur dieses eine Mal rede ich davon, nie mehr, nie mehr wieder. Elf Jahre habe ich geschwiegen davon, und werde bald stumm sein in alle Ewigkeit: einmal musste ich ausschreien wie teuer ich es erkaufte, dies Kind, das meine Seligkeit war und das nun dort ohne Atem liegt. Ich hatte sie schon vergessen, diese Stunden, längst vergessen im Lächeln, in der Stimme des Kindes, in meiner Seligkeit; aber jetzt, da es tot ist, wird die Qual wieder lebendig, und ich musste sie mir von der Seele schreien, dieses eine Mal. Aber nicht Dich klage ich an, nur Gott, nur Gott, der sie sinnlos machte, diese Qual.
Nicht Dich klage ich an, und nie habe ich mich im Zorn [73] Zorn, m – гнев
erhoben gegen Dich. Selbst in der Stunde, habe ich Dich nicht angeklagt vor Gott. Immer habe ich Dich geliebt, immer die Stunde gesegnet [74] segnen – благословлять
, da Du mir begegnet bist. Und müsste ich noch einmal durch die Hölle jener Stunden und wüsste vordem, was mich erwartet, ich täte es noch einmal, mein Geliebter, noch einmal und tausendmal!
Unser Kind ist gestern gestorben – Du hast es nie gekannt. Ich hielt mich lange verborgen [75] verborgen – скрываться
vor Dir, sobald ich dies Kind hatte; meine Sehnsucht nach Dir war weniger schmerzhaft geworden, ja ich glaube, ich liebte Dich weniger leidenschaftlich, zumindest litt ich nicht so an meiner Liebe, seit es mir geschenkt war. Ich wollte mich nicht zerteilen zwischen Dir und ihm; so gab ich mich nicht an Dich, den Glücklichen, sondern an dies Kind, das mich brauchte, das ich nähren [76] nähren – кормить
musste, das ich küssen konnte und umfangen. Ich schien gerettet vor meiner Unruhe nach Dir, gerettet durch dies Dein anderes Du.
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