Ich weiß, das sind alles kindische Torheiten, die ich Dir da erzähle. Aber ich schäme mich nicht, denn nie war meine Liebe zu Dir reiner und leidenschaftlicher als in diesen kindlichen Exzessen.
Aber ich will Dich nicht langweilen. Nur das schönste Erlebnis meiner Kindheit will ich Dir noch anvertrauen. An einem Sonntag muss es gewesen sein. Du warst verreist, und Dein Diener schleppte die schweren Teppiche, durch die offene Wohnungstür. Er trug schwer daran, der Gute, und in einem Anfall von Verwegenheit ging ich zu ihm und fragte, ob ich ihm nicht helfen könnte. Er war staunt, aber ließ mich gewähren, und so sah ich Deine Wohnung von innen.
Diese Minute war die glücklichste meiner Kindheit. Sie wollte ich Dir erzählen, damit Du, der Du mich nicht kennst, endlich zu ahnen beginnst, wie ein Leben an Dir hing und verging. Ich merkte nicht, dass ein älterer Herr, ein Kaufmann aus Innsbruck öfter kam und länger blieb, ja, es war mir nur angenehm, denn er führte Mama manchmal in das Theater, und ich konnte allein bleiben, an Dich denken, was ja meine höchste, meine einzige Seligkeit [30] Seligkeit, f – высшее счастье
war.
Eines Tages nun rief mich die Mutter in ihr Zimmer; sie hätte ernst mit mir zu sprechen. Ich wurde blass und hörte mein Herz plötzlich hämmern [31] hämmern – колотиться
: sollte sie etwas geahnt? Mein erster Gedanke warst Du, das Geheimnis, das mich mit der Welt verband. Aber die Mutter war selbst verlegen [32] verlegen – смущённый
, sie küsste mich (was sie sonst nie tat), sie begann zu erzählen, ihr Verwandter habe ihr einen Heiratsantrag gemacht, und sie sei entschlossen, ihn anzunehmen. Heißer stieg mir das Blut zum Herzen: nur ein Gedanke antwortete von innen, der Gedanke an Dich. „Aber wir bleiben doch hier?“ konnte ich gerade noch stammeln [33] stammeln – запинаться
. „Nein, wir ziehen nach Innsbruck, dort hat Ferdinand eine schöne Villa.“ Mehr hörte ich nicht. Mir ward schwarz vor den Augen. Später wusste ich, dass ich in Ohnmacht [34] Ohnmacht, f – обморок
gefallen war. Was dann in den nächsten Tagen geschah, wie ich mich wehrte gegen ihren übermächtigen Willen, das kann ich Dir nicht schildern [35] schildern – описать, изображать
: noch jetzt zittert mir, da ich daran denke, die Hand im Schreiben. Mein wirkliches Geheimnis konnte ich nicht verraten.
Niemand sprach mehr mit mir, alles geschah hinterrücks. Man nutzte die Stunden, da ich in der Schule war, um die Übersiedlung zu fördern: kam ich dann nach Hause, so war immer wieder ein anderes Stück verräumt oder verkauft. Ich sah, wie die Wohnung und damit mein Leben verfiel, und einmal, als ich zum Mittagessen kam, waren die Möbelpacker dagewesen und hatten alles weggeschleppt. In den leeren Zimmern standen die gepackten Koffer und zwei Feldbetten für die Mutter und mich: da sollten wir noch eine Nacht schlafen, die letzte, und morgen nach Innsbruck reisen.
An diesem letzten Tag fühlte ich mit plötzlicher Entschlossenheit, dass ich nicht mehr leben konnte ohne Deine Nähe. Wie ich mir es dachte und ob ich überhaupt klar in diesen Stunden der Verzweiflung [36] Verzweiflung, f – отчаяние
zu denken vermochte, das werde ich nie sagen können, aber plötzlich – die Mutter war fort – stand ich auf im Schulkleid, wie ich war, und ging hinüber zu Dir. Nein, ich ging nicht: es stieß mich mit steifen Beinen, mit zitternden [37] zitternden – дрожащий
Gelenken magnetisch fort zu Deiner Tür. Ich sagte Dir schon, ich wusste nicht deutlich, was ich wollte: Dir zu Füßen fallen [38] zu Füßen fallen – упасть к ногам
und Dich bitten, mich zu behalten als Magd, und ich fürchte, Du wirst lächeln über diesen unschuldigen Fanatismus einer Fünfzehnjährigen, aber – Geliebter, Du würdest nicht mehr lächeln, wüsstest Du, wie ich damals draußen im eiskalten Gange stand, starr vor Angst. Es war ein Kampf durch die Ewigkeit entsetzlicher Sekunden – den Finger auf den Knopf der Türklingel drückte.
Aber du kamst nicht. Niemand kam. Du warst offenbar fort an jenem Nachmittage und Johann auf Besorgung. Ich ging in unsere zerstörte, ausgeräumte Wohnung zurück. Aber unter dieser Erschöpfung [39] Erschöpfung, f – изнеможение
glühte noch unverlöscht die Entschlossenheit, Dich zu sehen, Dich zu sprechen, ehe sie mich wegrissen. Die ganze lange, entsetzliche Nacht habe ich dann, Geliebter, auf Dich gewartet. Kaum dass die Mutter sich in ihr Bett gelegt hatte und eingeschlafen war, schlich ich in das Vorzimmer hinaus, um zu horchen, wann Du nach Hause kämest. Die ganze Nacht habe ich gewartet, und es war eine eisige Januarnacht. Ich war müde, meine Glieder schmerzten mich, und es war kein Sessel mehr, mich hinzusetzen: so legte ich mich flach auf den kalten Boden, über den der Zug von der Tür hinstrich. Ich musste immer wieder aufstehen, so kalt war es im entsetzlichen Dunkel. Aber ich wartete, wartete, wartete auf Dich wie auf mein Schicksal. Endlich – es muss schon zwei oder drei Uhr morgens gewesen sein – hörte ich unten das Haustor aufsperren und dann Schritte die Treppe hinauf. Warst Du es, der da kam? Ja, Du warst es, Geliebter – aber Du warst nicht allein. Du kamst mit einer Frau nach Hause… Wie ich diese Nacht überleben konnte, weiß ich nicht. Am nächsten Morgen, um acht Uhr, schleppten sie mich nach Innsbruck.
Mein Kind ist gestern Nacht gestorben – nun werde ich wieder allein sein, wenn ich wirklich weiterleben muss. Morgen werden sie kommen, fremde, schwarze, ungeschlachte Männer, und einen Sarg bringen, werden es hineinlegen, mein armes Kind. Vielleicht kommen auch Freunde und bringen Kränze. Sie werden mich trösten und mir irgendwelche Worte sagen. Was können sie mir helfen? Ich weiß, ich muss dann doch wieder allein sein. Und es gibt nichts Entsetzlicheres, als Alleinsein unter den Menschen. Damals habe ich es erfahren, damals in jenen Jahren von meinem sechzehnten bis zu meinem achtzehnten, wo ich wie eine Gefangenezwischen meiner Familie lebte [40] wie eine Gefangene leben – жить словно пленница
.
Der Stiefvater, ein sehr ruhiger, wortkarger Mann, war gut zu mir, meine Mutter schien allen meinen Wünschen bereit, junge Menschen bemühten sich um mich, aber ich stieß sie alle in einem leidenschaftlichen Trotz [41] Trotz, m – упорство, своенравие
zurück. Ich wollte nicht glücklich, nicht zufrieden leben abseits von Dir. Die neuen, bunten Kleider, die sie mir kauften, zog ich nicht an. Ich weigerte mich, in Konzerte, in Theater zu gehen. Ich saß allein zu Hause, stundenlang, tagelang, und tat nichts, als an Dich zu denken. Ich kaufte mir alle Deine Bücher. Wenn Dein Name in der Zeitung stand, war es ein festlicher Tag. Willst Du es glauben, dass ich jede Zeile aus Deinen Büchern auswendig kann, so oft habe ich sie gelesen?
Die ganze Welt, sie existierte nur in Beziehung auf Dich. Doch war ich damals wirklich noch ein Kind? Ich wurde siebzehn, wurde achtzehn Jahre – die jungen Leute begannen sich auf der Straße nach mir umzublicken, doch sie erbitterten [42] erbitten – ожесточать
mich nur. Mein ganzes Denken war in eine Richtung gespannt: zurück nach Wien, zurück zu Dir.
Mein Stiefvater war vermögend [43] vermögend – состоятельный, зажиточный
, er betrachtete mich als sein eigenes Kind. Aber ich drang in erbittertem Starrsinn darauf, ich wolle mir mein Geld selbst verdienen, und erreichte es endlich, dass ich in Wien zu einem Verwandten als Angestellte eines großen Konfektionsgeschäftes kam. Muss ich Dir sagen, wohin mein erster Weg ging, als ich an einem nebligen Herbstabend – endlich! endlich! – in Wien ankam?
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