1 ...7 8 9 11 12 13 ...18 Ich habe, was sie wollen. Ich habe die Kontrolle hier.
“Es ist ein USB-Stick, auf dem sich Information befindet.”
“Gib ihn mir”, befahl ihm Baker.
“Kann ich dafür in meine Tasche greifen?”
“Langsam”, knurrte Baker, die Sig Sauer auf Nulls Stirn gerichtet.
“OK.” Null zeigte seine leere linke Hand, wackelte mit den Fingern und fuhr dann mit der Hand langsam in seine Hosentasche. Baker ist etwa fünf Meter entfernt. Mit der Hand in seiner Tasche ergriff er den USB-Stick mit zwei Fingern, hielt ihn mit dem Zeige- und Mittelfinger fest. Stevens ist etwa sieben Meter entfernt. Er nahm das Klappmesser mit seinem kleinen und Ringfinger auf, hielt es mit dem Daumen fest. Das ist genau wie die Tueller-Übung.
An diesem Morgen hätte er noch geschworen, niemals den Namen Dennis Tueller gehört zu haben, doch jeder, der ausgebildet wurde, ein Messer in einem Feuergefecht zu verwenden, würde ihn kennen. 1983 führte Sergeant Tueller eine Reihe von Tests durch, um festzustellen, wie schnell ein Angreifer mit einem Messer eine Distanz von etwa sechs Metern zurücklegen könnte – und ob ein Verteidiger mit einer gehalfterten Waffe rechtzeitig reagieren könnte.
Weniger als zwei Sekunden. Das war die durchschnittliche Zeit, die ein Angreifer brauchte, um sechs Meter auf ein Ziel zu sprinten. Das Problem war nur, dass Bakers Waffe nicht gehalftert war.
Doch Stevens hatte seine Waffe noch nicht gezückt.
“Siehst du?” Null hob den USB-Stick, den er zwischen zwei Finger hielt, hoch, und achtete dabei darauf, dass sein Handrücken Baker zugewandt war.
“Wirf ihn rüber”, verlangte Baker. Hinter dem Söldner sprachen und lachten ein paar Passanten, während sie an der Mündung des Durchgangs vorbeigingen. Ein junger Mann unter ihnen blickte in den Durchgang hinein, doch da Baker ihm den Rücken zugedreht hatte, sah er nicht die Sig Sauer. Stattdessen runzelte der Mann nur kurz die Stirn und ging weiter.
Ich könnte wirklich eine Ablenkung gebrauchen. Doch Null war nicht dazu bereit, um Hilfe zu rufen, jemand weiteren zu gefährden.
Baker hielt seine Pistole mit nur einer Hand und streckte die andere aus. Die Handinnenfläche nach oben gedreht wartete er darauf, dass Null den USB-Stick herüberwarf.
Und das tat er auch. Er holte mit seinem Arm aus und warf den USB-Stick auf Baker in hohem Bogen zu. Als er den Stick losließ, brachte er das Klappmesser von seiner Hand in seine Finger.
Dann katapultierte er wie ein Sprung von seinem Platz und ließ das Messer währenddessen aufschnappen.
Als Bakers Blick von seinem Ziel auf den kleinen schwarzen USB-Stick wanderte, der in hohem Bogen durch die Luft flog, rannte Null von seiner Position – doch nicht auf Baker zu. Er hechtete wie ein Schuss in Richtung des größeren Mannes.
Eins-Komma-vier Sekunden. Er hatte die Tueller-Übung tausend Mal durchgeführt, er hatte für genau dieses Szenario geprobt, erinnerte sich noch so stark daran, als wäre es gestern geschehen. Eine Hochpräzisionsradarfalle in einem Trainingsfeld der CIA hatte einen Durchschnitt von eins-Komma-vier Sekunden gemessen, die er brauchte, um ein Ziel in etwa sechs Metern Abstand zu erreichen.
Die Menge an Minimalmathematik, die ihm blitzschnell durch das Gehirn schoss, war umwerfend. Es war immer dagewesen, verwurzelt durch verrückte Mengen an Wiederholung und Lernen, verschlossen in den dunkelsten Winkeln seines limbischen Systems, wartete es nur auf die Gelegenheit, wieder herauszubrechen. Die durchschnittliche Geschwindigkeit menschlicher Reaktion lag bei einer halben bis dreiviertel Sekunde. Selbst ein Profi wie Baker brauchte mindestens eine viertel Sekunde zwischen Schüssen auf einer halbautomatischen Pistole wie der Sig Sauer. Und Null war ein bewegliches Ziel.
Der große Mann, Stevens, war nicht schnell. Er hatte die Pistole kaum aus dem Halfter, seine Augen weiteten sich ungewollt vor Überraschung über Nulls Geschwindigkeit, als er auf ihn zuraste. Die Klinge war schon aufgeklappt. Null sprang die letzten zwei Meter auf Stevens zu und ließ die Spitze der Klinge mit einer raschen Bewegung durch seine Kehle rutschen.
Mit seiner verbundenen rechten Hand griff er nach Stevens großer Schulter und als die Messerspitze wieder herausrutschte, wand sich Null um den Körper des großen Mannes herum. Zwei Schüsse klangen hinter ihm – swipp-swipp aus der schallgedämpften Pistole – und trafen Stevens in die Brust, als Null hinter ihm landete. Scharfer, bemerkenswerter Schmerz brannte in seiner verletzten Hand, doch er war jetzt voll von Adrenalin, das in durchfloss, während er das Messer fallen ließ und nach Stevens Pistole griff, bevor der Mann zu Boden fiel. Er riss sie aus seiner fleischigen Hand und feuerte, sicher versteckt hinter seinem breiten, menschlichen Schutzschild, zwei Schuss auf Baker.
Auch mit seiner linken Hand war er ein guter Schütze, doch nicht gar so gut wie mit der rechten. Einer der Schüsse verfehlte. Glas zersprang irgendwo hinter dem Durchgang. Der zweite donnernde Schuss – Stevens’ Beretta war nicht mit einem Schalldämpfer ausgestattet – traf Baker in die Stirn.
Der Kopf des Söldners fiel nach hinten. Sein Körper folgte.
Null wartete nicht, bis er wieder zu Atem. Er rannte wieder voran, schnappte den USB-Stick auf, der immer noch auf dem Zement lag und rannte dann in die entgegengesetzte Richtung die Gasse hinunter. Zusammen mit dem blutigen Messer stopfte er den Stick in seine Tasche und nahm dann Stevens’ Beretta mit. Sie hatte seine Fingerabdrücke.
Irgendwo heulte ein Autoalarmanlage laut auf. Das zersplitterte Glas, das er gehört hatte, musste wohl ein Autofenster gewesen sein. Er hoffte, dass niemand getroffen wurde.
Die Brust des großen Mannes hob und senkte sich. Er war noch am Leben. Doch Null konnte sich nicht den Luxus leisten, ihn zu töten oder abzuwarten. Außerdem stürbe er mit der Stichwunde am Hals und den zwei Brustschüssen binnen Sekunden.
Menschen riefen alarmiert aus der Nähe auf, als Null auf das Ende der Gasse zurannte und dabei die Waffe hinter sich in seine Hose steckte. Er bog um die Ecke und sah sich fassungslos um, in der Hoffnung, als ein weiterer schockierter Passant wahrgenommen zu werden.
Er eilte zum Ende des Häuserblocks, als er den Schrei einer Frau hörte – zweifellos entdeckte sie die zwei Leichen in der engen Gasse – und dann den Ruf eines Mannes: “Ruft den Notdienst an!”!
Sie mussten sterben. Es gab keinen anderen Ausweg. Er hatte es schon in dem Moment gewusst, als er versehentlich sein Ass im Ärmel gezeigt hatte und Bakers Namen nannte. Er wusste es, als er ihnen den USB-Stick zeigte, den er von der Bank abgeholt hatte.
Seltsamerweise spürte er keine Reue. Es gab kein “was wäre wenn?”, ob er es geschafft hätte, sie umzustimmen oder sie überredet hätte, die Dinge aus seiner Perspektive zu sehen. Es war eine Situation, bei der entweder er oder sie stürben und er hatte sich entschlossen, nicht das Opfer zu sein. Sie hatten ihre Wahl getroffen und es war die falsche.
Das ganze Unterfangen, vom Wurf des USB-Sticks zur Flucht von der Gasse hatte sich binnen Sekundenschnelle entfaltet. Doch er konnte sich ganz klar an jeden Moment visuell erinnern, als ob alles in Zeitlupe in seinem Kopf abliefe. Das Seltsame daran war, dass Nulls Gedanken sich nicht darum drehten, wie nah die Kugel, die Baker nur Meter von ihm entfernt in die Backsteinmauer gefeuert hatte, an ihm vorbeigeflogen war, oder dass Baker ihn leicht hätte töten können, wenn er das wollte. Es ging auch nicht um die Mädchen. Stattdessen war er sich der zweigeteilten Natur seines Akademikerdaseins und seiner wiedergefundenen Erinnerungen nur zu bewusst. Null war kühl, gelassen und glaubte, vielleicht aus Selbstüberschätzung oder Erfahrung oder auch einer Kombination von beiden, dass er immer noch die Kontrolle über diese Situation hatte.
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