Maya eilte die Treppen in den Keller hinunter. Sie stellte sich vor die Kamera, die direkt über der Tür des Panikraumes angebracht war. “Ich bin’s, Sara. Du kannst die Tür öffnen.”
Die dicke Stahlsicherheitstür wurde von innen aufgedrückt und das schüchterne Gesicht ihrer Schwester erschien. “Alles in Ordnung?”
“Im Moment schon. Los, wir hauen ab.”
Als sie wieder im Erdgeschoss waren, bemerkte Sara das Blutbad mit weitgeöffneten Augen, doch sagte nichts. Mitch wühlte nach etwas in der Küche. “Habt ihr einen Erste-Hilfe-Kasten?”
“Ja, hier.” Maya zog eine Schublade auf und nahm eine kleine, weiße Metallkiste mit einem Klappdeckel und einem roten Kreuz darauf hinaus.
“Danke.” Mitch zog ein antiseptisches Tuch heraus und ließ dann ein rasierklingenscharfes Messer aufklappen. Maya tat bei seinem Anblick einen Schritt zurück. “Tut mir echt leid”, erklärte der Mechaniker, “doch der nächste Schritt wird ein wenig unangenehm. Ihr habt beide Ortungsgeräte in eurem rechten Arm. Die müssen raus. Sie liegen subkutan; unter der Haut, doch über dem Muskel. Das bedeutet, dass es wie die Hölle brennt für eine Minute, aber ich verspreche euch, dass es nicht zu schlimm wird.”
Maya biss sich nervös auf die Lippe. Sie hatte das Ortungsimplantat fast vergessen. Doch dann war sie sehr überrascht, zu sehen, wie Sara einen Schritt vortrat und ihren rechten Ärmel hochzog. Sie griff nach Mayas Hand und hielt sie fest. “Mach schon.”
* * *
Es gab eine Menge Blut, doch nicht besonders viel Schmerz, da Mitch die beiden Ortungsgeräte schnell herausnahm. Das Implantat war kaum so groß wie ein Reiskorn. Maya bewunderte es, während Mitch den Schnitt von einem Zentimeter Länge versorgte und eine Mullbinde darauflegte.
“Jetzt können wir los.” Mitch nahm den Erste-Hilfe-Kasten, die Waffe des Söldners, beide Telefone der Mädchen und die beiden winzigen Implantate. Sie folgten ihm nach draußen und sahen dabei zu, wie er die Telefone und die Implantate in den Geländewagen der Agenten legte. Dann tätigte er einen weiteren Anruf auf seinem Klapptelefon.
“Ich brauche eine Säuberung”, grummelte er. “Nulls Haus in der Spruce Street. Vier. Ein Auto. Bringt es in den Westen und lasst es dort verschwinden.” Er legte auf.
Die drei stiegen in die Fahrerkabine eines alten Lieferwagen, auf dessen Seite “Third Street Garage” stand. Der Motor brummte zu Leben und sie fuhren ab.
Keine der beiden Mädchen blickte zurück.
Maya saß in der Mitte zwischen Mitch und Sara. Sie bemerkte die dicken Fingerknöchel des Mechanikers, seine Fingerspitzen, die sowohl mit Öl als auch Blut verschmiert waren. “Wo fahren wir hin?” frage sie.
Mitch grummelte, ohne dabei die Augen von der Straße zu nehmen. “Nebraska.”
Null parkte das Auto direkt auf dem verlassenen Rollfeld von Meadow Field. Er hatte eine etwas umständlichere Route genommen, sich auf kleineren Straßen fortbewegt und die Highways aus Angst vermieden, dass die CIA sein Auto meldete – was sie sicherlich getan hatten.
Meadow Field bestand nur aus einer Landebahn. Das Gebäude und die Flugzeughalle waren in den fünfzehn Jahren, seitdem es nicht mehr benutzt wurde, schon lange abgerissen worden. Unkraut und Blumen sprossen durch die Risse des Asphalts und das ignorierte Gras auf beiden Seiten der Landebahn wuchs hoch.
Doch trotz seines Erscheinungsbildes war es ein erfreulicher und willkommener Anblick für Null. In etwa dreißig Metern Entfernung stand ein alter Lieferwagen, auf dessen Seite mit einer Schablone die Aufschrift “Third Street Garage” gemalt war. Der stämmige Mechaniker lehnte sich gegen die Tür der Fahrerseite, seine Fernfahrermütze tief in die Stirn gezogen.
Als Null zum Lieferwagen eilte, stiegen seine Töchter aus der Fahrerkabine und rannten auf ihn zu. Er nahm jede in einen Arm, ignorierte den Schmerz seiner gebrochenen Hand und drückte sie beide fest an sich.
“Geht’s euch gut?” fragte er.
“Es gab ein paar Probleme”, gab Maya zu, während auch sie ihn umarmte. “Doch wir hatten Hilfe.”
Null nickte und ließ sie los, doch blieb auf einem Knie, so dass er Sara gerade in die Augen blickte. “In Ordnung, hört mir zu. Ich werde ehrlich mit euch sein.” Er hatte die ganze Fahrt über nachgedacht, was er ihnen sagen würde und hatte sich dazu entschlossen, ihnen einfach alles zu erklären. Ihre Leben waren so oder so bedroht und sie hatten das Recht, zu erfahren, warum. “Es gibt da ein paar mächtige Leute, die einen Krieg anfangen wollen. Die planen das schon seit einer langen Zeit und es geht dabei nur um ihren persönlichen Gewinn. Wenn sie das schaffen, dann bedeutet es, dass eine Menge unschuldiger Menschen sterben. Ich werde direkt mit dem Präsidenten sprechen und ihm zu verstehen geben, was da vor sich geht, doch ich kann mich nicht darauf verlassen, dass er sein Vertrauen in die falschen Hände legt. Dies könnte zu einem neuen Weltkrieg führen.”
“Und das kannst du nicht geschehen lassen”, sagte Sara leise.
Maya nickte ernst.
“Das stimmt. Und…” Null seufzte schwer. “Es bedeutet, dass es für eine kleine Weile ganz schön hart werden könnte. Sie wissen, dass ihr Zwei der einfachste Weg seid, um an mich zu kommen. Deshalb müsst ihr eine Weile verschwinden und euch verstecken, bis das alles vorbei ist. Ich weiß nicht, wie lange es dauert. Ich weiß nicht…” Er unterbrach sich selbst. Er wollte ihnen sagen: ich weiß nicht, ob ich das hier überleben werde. Doch er schaffte es nicht, diese Worte auszusprechen.
Er musste es nicht tun. Sie wussten, was er meinte. Tränen stiegen in Mayas Augen und sie blickte weg. Sara umarmte ihn noch einmal und er hielt sie fest.
“Ihr geht mit Mitch und macht, was immer er euch anweist, OK?”
Null hörte das Zittern in seiner eigenen Stimme. Er war sich jetzt mehr als sonst bewusst, dass dies das letzte Mal sein könnte, dass er seine Töchter sähe. “Bei ihm seid ihr in Sicherheit. Und ihr passt gegenseitig auf euch auf.”
“Das machen wir”, flüsterte Sara in sein Ohr.
“Gut. Jetzt wartet hier einen Moment, während ich mit Mitch spreche. Ich komme gleich wieder.” Er ließ Sara los und schritt auf den Lieferwagen zu, wo der Mechaniker ruhig wartete.
“Danke”, sagte ihm Null. “Du bist mir nichts schuldig. Ich weiß dies alles sehr zu schätzen und wenn es vorbei ist, dann zahle ich es dir auf jede mir mögliche Art zurück.”
“Nicht notwendig”, grummelte der Mechaniker. Seine Fernfahrermütze war immer noch tief in sein Gesicht gezogen und verdunkelte seine Augen. Sein dicker Bart bedeckte den Rest seines Gesichtes.
“Wo bringst du sie hin?”
“Es gibt da ein altes WITSEC Haus auf dem Land in Nebraska”, antwortete Mitch. “Ein kleines Häuschen direkt vor einer Kleinstadt, praktisch im Nirgendwo. Wird seit Jahren nicht benutzt, doch es ist immer noch von der Regierung registriert. Dort bringe ich sie hin. Da sind sie in Sicherheit.”
“Danke”, wiederholte sich Null. Er wusste nicht, was er sonst sagen könnte. Er war sich nicht mal sicher, warum er diesem Mann die beiden wichtigsten Menschen in seinem Leben so einfach anvertrauen konnte. Es war ein Gefühl, ein Instinkt, der Logik überschritt. Doch er hatte vor langem gelernt – und erst vor Stunden wiedergelernt – seinen Instinkten zu vertrauen.
“Also”, grummelte Mitch. “Jetzt geht es doch los, was?”
Null blinzelte ihn überrascht an. “Ja”, sagte er vorsichtig. “Du weißt davon Bescheid?”
“Ja.”
Er schnaubte fast verächtlich. “Wer bist du wirklich?”
“Ein Freund.” Mitch blickte auf seine Armbanduhr. “Helikopter sollte gleich ankommen. Der bringt uns zu einer privaten Landebahn, wo wir in ein Flugzeug in Richtung Westen einsteigen.”
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