“Nein”, erwiderte er. “Ich erinnere mich nicht an Sie. Ich erinnere mich nicht, jemals hier gewesen zu sein und es war ein Fehler, hierherzukommen. Wenn Sie mich nicht rauslassen, dann werden schlimme Dinge geschehen…”
“Mein Gott”, sagte eine gedämpfte, männliche Stimme. “Sie sind es.”
Reid erhob sofort die Fäuste, als er sich der neuen Bedrohung zuwandte.
Der Arzt – vermutlich war er es, da er einen weißen Kittel trug – stand im Türrahmen links neben dem Rosenholz Schreibtisch. Er musste Ende fünfzig, vielleicht auch Anfang sechzig sein, doch seine grünen Augen waren kühn und scharf. Sein komplett weißes Haar war sauber geschnitten und perfekt frisiert. Seine Krawatte, bemerkte Reid, war von Ermenegildo Zegna, doch er war sich nicht sicher, woher er das wusste.
Am Wichtigsten jedoch war, dass der Arzt komplett überwältigt von Reids Anwesenheit erschien.
“Dr. Guyer, nehme ich an?” sagte er atemlos.
“Ich dachte immer, dass sie vielleicht zurückkämen”, antwortete der Arzt und ein freudiges Lächeln breitete sich dabei auf seinem Gesicht aus. Er hatte einen ähnlichen schweizerdeutschen Akzent wie seine Rezeptionisten, an die er sich wandte, um sie zu bitten: “Alina, Schatz, bitte sage meine Termine ab. Auch keine Telefonate. Halte die Tür verschlossen. Wir haben heute geschlossen.”
“Natürlich”, gab Alina zurück, während sie wieder langsam auf ihren Stuhl sank und ihre Augen, die einem See ähnlich waren, auf Reid gerichtet hielt.
“Kommen Sie!” Guyer winkte Reid zu, ihm zu folgen. “Bitte, kommen Sie. Ich verspreche Ihnen, dass Sie hier unter Freunden sind.”
Reid zögerte. “Sie verstehen, dass ich vielleicht ein wenig misstrauisch bin.”
Guyer nickte sichtbar. “Ich verstehe, dass wir eine Menge zu besprechen haben.” Er drehte sich um und verschwand im Zimmer hinter dem Türrahmen.
Das hier fühlte sich falsch an. Er hatte ein ferngesteuertes Türschloss, es gab keine anwesenden Patienten und ein kleines Vermögen an Mobiliar. Doch er wollte Antworten, weshalb Reid seinen Instinkt ignorierte und dem Arzt folgte.
Bevor er durch die Tür trat, blickte die Rezeptionisten – von der Reid annahm, dass sie Guyers Gattin war – mit einem dünnen Lächeln zu ihm auf und fragte: “Und der Tee?”
“Vielleicht etwas Stärkeres, falls Sie was da haben”, murmelte Reid.
An den Wänden von Guyers Praxis hing sowohl eine beeindruckende Zahl von gerahmten Zertifizierungen und Diplomen als auch eine Sammlung von verschiedenen Reisen und Erfolgen. Doch Reid widmete ihnen kaum Aufmerksamkeit. Es war ihm egal, was dieser Arzt getan hatte, abgesehen von der einzelnen Prozedur, die Guyer an seinem Kopf vorgenommen hatte.
Der Arzt zog eine Schublade in seinem Schreibtisch auf und nahm ein Notizbuch und einen Stift heraus. Anschließend setzte er sich schwer auf seinen Stuhl und strahlte Reid an, als sei er sein Weihnachtsgeschenk.
“Bitte”, sagte er. “Setzen Sie sich, Agent Null.” Guyer seufzte. “Ich habe immer vermutet, dass sie womöglich hierher zurückkämen. Ich wusste nur nicht wann. Ich nahm an, dass das Implantat letztendlich aufhörte, zu funktionieren – falls Sie überleben sollten – doch nur zwei Jahre? Das ist einfach keine gute Handarbeit.” Er kicherte, als hätte er einen Witz gemacht. “Jetzt da Sie hier sind, habe ich tausend Fragen. Doch leider weiß ich nicht, wo ich anfangen soll.”
Reid setzte sich auf einen Stuhl vor Guyers Schreibtisch, doch war weiter vorsichtig und behielt ein Auge auf die Tür hinter ihm. Er blickte auf seine Uhr und sah eine SMS von Maya: Sara hat mir geglaubt. Du bist besser wieder hier, bevor der Film vorbei ist.
OK, dachte er. Egal, was hier geschah, er konnte nicht vergessen, dass er nur wenig Zeit hatte. “Ich weiß, wo wir anfangen”, erwiderte Reid. “Was meinen Sie, wenn Sie sagen, dass das Implantat letztendlich aufhören würde, zu funktionieren?”
“Sie wissen, woher diese Technologie stammt, ja?” fragte der Arzt.
Reid wusste es. Alan Reidigger hatte sie von der CIA gestohlen. Der exzentrische Technologie Ingenieur Bixby war sogar einer der Miterfinder des Gedächtnishemmers. “Ja”, antwortete er.
“Nun, Ihr Freund, Herr Reidigger, bot mir einen Deal an”, fuhr Guyer fort. “Er brachte mir nicht nur den Gedächtnishemmer, sondern auch das Schema, auf dem er aufgebaut war, damit ich versuchen könnte, die Technologie zu kopieren. Während ich ihn jedoch erforschte, sah ich den Designfehler. Es war schließlich nur ein Prototyp. Ich nahm an, dass er nach fünf oder sechs Jahren begänne, zu versagen.”
“Begänne, zu versagen?” wiederholte Reid. “Also kämen diese Erinnerungen letztendlich so oder so wieder?”
“Nun… ja”, gab der Arzt gerade zurück. “Darum sind Sie doch hier, oder? Sie haben begonnen, sich an die unterdrückten Erinnerungen zu erinnern?”
“Nicht wirklich. Iranische Terroristen haben mit das Implantat aus dem Kopf gerissen.”
Dr. Guyers Ausdruck rutschte ihm vom Gesicht. “Oh”, sagte er empathisch, “das ist aber sehr bedauerlich. Sie armer Mann… ihr Gehirn muss ein komplettes Chaos sein.”
“Das ist es. Danke”, antwortete Reid. “Was ist mit dem anderen Teil? Sie sagten,falls ich überlebte’. Was soll das bedeuten?”
Guyer blickte auf seinen Schreibtisch, als gäbe es da etwas sehr Interessantes. “Ich glaube, diese Frage könnte Ihr Kollege, Herr Reidigger, besser beantworten.”
“Der kann sie nicht beantworten”, erklärte ihm Reid. “Er ist tot.”
Guyer schien sehr betroffen von der Nachricht. Er faltete seine Hände andächtig auf dem Schreibtisch und runzelte die Stirn, was ihn gleich mehrere Jahre älter aussehen ließ. “Es tut mir sehr leid, das zu hören”, gab er leise von sich. “Er schien, ein guter Mann zu sein. Er bemühte sich sehr darum, einem Freund zu helfen.”
“Das mag sein, doch er ist nicht hier”, antwortete Reid einfach. “Ich schon. Und Sie haben meine Frage nicht beantwortet.
Der Arzt nickte. “Ja. Nun. Das ist keine einfache Antwort. Möglicherweise möchten Sie sie nicht hören…”
“Probieren Sie es aus.”
Guyer seufzte. “Sie und Herr Reidigger wollten Ihre Erinnerungen unterdrücken, damit Sie Ihr Leben mit Ihrer Familie verbringen könnten, glücklich und unbehelligt von den Schwierigkeiten, die Sie erlebt hatten. Doch Sie beide dachten, dass Ihre Agentur Sie letztendlich fände und… und Sie still stellen würde.”
Was? Reid konnte nicht glauben, was er da hörte. Die ganze Zeit über hatte er gedacht, dass der Sinn des Gedächtnishemmers darin bestand, es ihm zu ermöglichen, zu einem normalen Leben zurückzukehren, entfernt von der CIA und allem, das damit zusammenhing. “Sie meinen, dass ich wusste oder glaubte, dass man mich töten wollte? Und Sie haben dennoch zugestimmt, das zu tun?”
“Richtig, Agent Null.”
Reid schüttelte seinen Kopf. Warum würde ich das tun? Warum würde ich alles entfernen, das mir die Möglichkeit gäbe, zu überleben? Es fühlte sich an, als hätte er sich zu einer Art Sterbeklinik der Erinnerungen verdammt. Er hätte sich niemals vorgestellt, das jemals zu denken, doch der Einbruch der Iraner in sein Zuhause an jener Nacht im Februar schien ihm plötzlich willkommen. Ohne sie hätte er sich niemals an seine schmutzige Vergangenheit erinnert oder an die Wahrheit über den Tod seiner Frau oder jegliches, was die Verschwörung betraf…
Dann wusste er es. Das war genau der Grund, warum er es tat – damit er die Zeit, die ihm blieb, nicht mit tiefen Geheimnissen und Lügen verbringen müsste. Alles, was er wusste, alles, was er mit seinen Töchtern geteilt hatte und alles, was er immer noch vor ihnen verbarg, fühlte sich an, als ob es ihn langsam auffräße. Hätte er wirklich geglaubt, dass die Agentur ihn letztendlich sowieso umbrächte, dann hätte ihm der Gedächtnishemmer erlaubt, seine letzten Tage ohne das Gewicht seiner Vergangenheit auf seinen Schultern zu verbringen.
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