“So als lernte man einen Fremden kennen”, murmelte Maya. “Ein Fremder, der so aussieht wie du.” Sara stimmte nickend zu.
Reid seufzte. “Ich bin kein Fremder”, bestand er. “Ich bin euer Papa. Ich bin dieselbe Person, die ich immer war. Alles was ihr über mich wisst, alles was wir zusammen getan haben, das war alles real. Dies… all dies, das war ein Beruf. Ist es jetzt nicht mehr.”
War das die Wahrheit? wunderte er sich. Er wollte das glauben – dass Kent Steele nichts weiter als ein Alias war und nicht eine Persönlichkeit.
“Also”, begann Sara, “diese beiden Männer, die uns an der Uferpromenade verfolgt haben…?”
Er zögerte, war sich nicht sicher, ob das nicht zu viel für sie wäre. Doch er hatte Ehrlichkeit versprochen. “Die waren Terroristen”, erklärte er ihr. “Das waren Männer, die versuchten, an euch ranzukommen, um mir wehzutun. Genauso wie…” Er hielt inne, bevor er etwas über Rais oder die slowakischen Menschenhändler sagen konnte.
“Schau”, begann er erneut, “für lange Zeit dachte ich, dass ich der Einzige wäre, der dabei verletzt werden könnte. Doch jetzt weiß ich, wie falsch ich lag. Deshalb habe ich aufgehört. Ich arbeite noch für sie, doch ich mache nur noch Verwaltungssachen. Keine Einsätze mehr.”
“Wir sind also in Sicherheit?”
Reids Herz brach erneut. Nicht nur wegen der Frage, sondern auch wegen der Hoffnung in den Augen seiner jüngsten Tochter. Die Wahrheit, erinnerte er sich selbst. “Nein”, erklärte er ihr. “In Wahrheit ist niemand wirklich jemals sicher. So wunderbar und schön diese Welt auch sein kann, es wird immer bösartige Menschen geben, die anderen etwas antun wollen. Jetzt weiß ich aus persönlicher Erfahrung, dass es eine Menge guter Leute da draußen gibt, die sicherstellen, dass es jeden Tag weniger böse Menschen gibt. Doch egal, was sie tun, oder was ich tue, Ich kann dir niemals garantieren, dass du vor allem sicher bist.”
Er wusste nicht, woher diese Worte kamen, doch es fühlte sich an, als wären sie genauso sehr an ihn wie an seine Mädchen gerichtet. Das war eine Lektion, die er sehr dringend lernen musste. “Das bedeutet nicht, dass ich es nicht versuchen werde”, fügte er hinzu. “Ich werde niemals aufhören, zu versuchen, euch zu beschützen. Genauso wie auch ihr immer versuchen solltet, auf euch aufzupassen.”
“Wie?” fragte Sara. Der weit entfernte Blick war wieder in ihren Augen. Reid wusste genau, was sie dachte. Wie konnte sie, eine Vierzehnjährige, die durchnässt vierzig Kilo auf die Waage brachte, etwas wie den Vorfall davon abhalten, erneut zu geschehen?
“Nun”, antwortete Reid, “anscheinend ist deine Schwester heimlich zum Selbstverteidigungsunterricht gegangen.”
Sara blickte scharf zu ihrer Schwester herüber. “Echt?”
Maya rollte mit den Augen. “Danke, dass du mich verraten hast, Papa.”
Sara blickte zu ihm. “Ich will lernen, wie man eine Waffe schießt.”
“Heeee.” Reid hielt eine Hand hoch. “Tret mal auf die Bremse, Kleine. Das ist eine ganz schön ernste Bitte…”
“Warum nicht?” stimmte Maya zu. “Glaubst du, wir haben nicht genügend Verantwortungsbewusstsein?”
“Doch, natürlich glaube ich das”, gab er gerade zurück, “ich denke nur —”
“Du hast gesagt, wir sollen auch auf uns selbst aufpassen”, fügte Sara hinzu.
“Das habe ich gesagt, aber es gibt auch andere Wege, um —”
“Mein Freund Brent geht seit er zwölf ist mit seinem Vater auf die Jagd”, unterbrach ihn Maya.
“Er weiß, wie man eine Waffe schießt. Warum sollten wir es nicht lernen?”
“Weil das was anderes ist”, gab Reid streng zurück. “Und hört auf, euch gegen mich zusammenzuschließen. Das ist unfair.”
Bis dahin hatte er gedacht, dass dieses Gespräch ganz gut lief, doch jetzt verwendeten sie seine eigenen Worte gegen ihn. Er zeigte auf Sara. “Du willst lernen, wie man schießt. In Ordnung. Aber nur mit mir. Und zuerst will ich, dass du wieder zur Schule gehst und ich will positive Berichte von Dr. Branson. Und du.” Er zeigte auf Maya. “Kein geheimer Selbstverteidigungsunterricht mehr, OK? Ich weiß nicht, was der Typ euch beibringt. Wenn du lernen willst, wie man kämpft, wie man sich selbst verteidigt, dann frag mich.”
“Echt? Du bringst es mir bei?” Maya schien sich darüber zu freuen.
“Ja. Das mache ich.” Er hob seine Speisekarte an und öffnete sie. “Wenn ihr noch mehr Fragen habt, dann werde ich sie beantworten. Aber ich glaube, für heute Abend reicht es, oder?”
Er fand, er hatte Glück, dass Sara ihn nichts gefragt hatte, das er nicht beantworten konnte. Er wollte nicht den Gedächtnishemmer erklären müssen – das hätte die Dinge noch komplizierter gemacht und weitere Zweifel darüber, wer er war, aufbringen können – doch er wollte ebenfalls nicht antworten müssen, dass er etwas nicht wusste. Sie würden sofort vermuten, dass er ihnen etwas verschwiege.
So ist es perfekt, dachte er. Er musste es machen lassen, und bald schon. Kein weiteres Abwarten und keine Ausreden mehr.
“Hey”, schlug er über seine Speisekarte vor, “was haltet ihr davon, wenn wir morgen nach Zürich fahren? Das ist eine schöne Stadt. Eine Menge Geschichte, Shopping und Kultur.”
“Ja klar”, stimmte Maya zu. Doch Sara sagte nichts. Als Reid wieder über seine Speisekarte blickte, war ihr Gesicht zu einem nachdenklichen Stirnrunzeln verzogen. “Sara?” fragte er.
Sie sah ihn an. “Wusste Mama es?”
Die Frage war schon mal schwierig zu beantworten, als Maya sie nicht mal einen Monat zuvor stellte, und er war überrascht, sie erneut von Sara zu hören.
Er schüttelte den Kopf. “Nein. Sie wusste es nicht.”
“Ist das nicht…” sie zögerte, doch dann atmete sie tief ein und fragte: “Ist das nicht wie eine Lüge?”
Reid schloss seine Speisekarte und legte sie auf den Tisch. Plötzlich war er nicht mehr besonders hungrig. “Ja, mein Schatz. Das ist genau wie eine Lüge.”
* * *
Am nächsten Morgen nahmen Reid und die Mädchen den Zug in Richtung Norden von Engelberg nach Zürich. Sie redeten nicht weiter über seine Vergangenheit oder über den Vorfall. Falls Sara weitere Fragen hatte, so hielt sie diese zurück, zumindest für den Moment.
Stattdessen genossen sie die Sicht über die Schweizer Alpen während der zweistündigen Zugfahrt und schossen Fotos durch das Fenster. Sie verbrachten den späten Morgen damit, die atemberaubende Architektur der Altstadt zu bewundern und liefen am Ufer des Limmat entlang. Auch wenn sie vorgaben, Geschichte nicht so sehr zu mögen wie er, so waren beide Mädchen dennoch erstaunt über den Anmut des Großmünsters aus dem zwölften Jahrhundert. Sie stöhnten allerdings schon, als Reid begann, sie über Huldrych Zwingli und seine religiösen Reformen im sechzehnten Jahrhundert, die dort stattfanden, zu lehren.
Obwohl Reid sich prächtig mit seinen Töchtern amüsierte, war sein Lächeln zumindest teilweise forciert. Er war nervös wegen dem, was auf ihn zukam.
“Was kommt als Nächstes?” wollte Maya nach dem Mittagessen in einem kleinen Caféhaus mit Blick auf den Fluss wissen.
“Wisst ihr, was so richtig toll wäre, nach einer Mahlzeit wie dieser?” schlug Reid vor. “Ein Film.”
“Ein Film”, wiederholte seine älteste Tochter unbeeindruckt. “Na klar, wir müssen unbedingt bis in die Schweiz reisen, um etwas zu erleben, was wir auch zu Hause haben können.”
Reid grinste. “Nicht irgendein Film. Das schweizer Nationalmuseum ist nicht weit von hier und die zeigen einen Dokumentarfilm über die Geschichte von Zürich vom Mittelalter bis heute. Klingt das nicht toll?”
“Nein”, erwiderte Maya.
“Nicht wirklich”, stimmte Sara ihr zu.
“Ha. Naja, ich bin aber der Vater, und ich sage, dass wir uns den anschauen. Danach können wir tun, was auch immer ihr zwei wollt und ich beschwere mich nicht. Versprochen.”
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