Maya seufzte. “Das ist fair. Führ uns hin.”
Weniger als zehn Minuten später kamen sie am schweizer Nationalmuseum an, das tatsächlich einen Dokumentarfilm über die Geschichte Zürichs zeigte. Und Reid wollte ihn wirklich auch sehen. Doch obwohl er drei Tickets kaufte, hatte er vor, nur zwei von ihnen zu verwenden.
“Sara, musst du nochmal auf die Toilette, bevor wir reingehen?” fragte er.
“Gute Idee.” Sie verschwand im WC. Maya wollte ihr folgen, doch Reid hielt sie schnell am Arm fest.
“Warte. Maya… ich muss weg.”
Sie blickte ihn ungläubig an. “Was?”
“Es gibt da was, das ich tun muss”, erklärte er schnell. “Ich habe einen Termin.”
Maya hob besorgt eine Augenbraue an. “Wofür?”
“Das hat nichts mit der CIA zu tun. Zumindest nicht direkt.”
Sie schnaubte. “Ich kann es nicht fassen.”
Maya bitte”, drängte er. “Das ist mir wichtig. Ich verspreche dir, ich schwöre, es ist kein Einsatz oder etwas Gefährliches. Ich muss nur mit jemandem sprechen. Allein.”
Die Nasenflügel seiner Tochter blähten sich auf. Ihr gefiel das überhaupt nicht. Noch schlimmer, sie glaubte ihm nicht wirklich. “Und was sage ich Sara?”
Reid hatte schon darüber nachgedacht. “Sag ihr, dass es ein Problem mit meiner Kreditkarte gab. Jemand zu Hause hat versucht, sie zu benutzen und ich muss mich darum kümmern, damit wir nicht die Skihütte verlassen müssen. Sag ihr, dass ich draußen bin, Anrufe tätige.”
“Ach so, jaaaa”, gab Maya höhnisch zurück. “Du willst, dass ich sie anlüge.”
“Maya…” Reid stöhnte. Sara käme gleich aus der Toilette. “Ich verspreche dir, dass ich euch hinterher alles erkläre, doch jetzt habe ich gerade nicht die Zeit dafür. Bitte, geh da rein, setz dich und schau dir den Film mit ihr an. Ich komme zurück, bevor er vorbei ist.”
“In Ordnung”, stimmte sie widerwillig zu. “Aber ich will eine vollständige Erklärung, wenn du wieder da bist.”
“Die kriegst du”, versprach er. “Und geht nicht aus dem Raum.” Er küsste sie auf die Stirn und eilte hinfort, bevor Sara aus dem WC kam.
Es fühlte sich fürchterlich an, seine Töchter schon wieder anzulügen – oder zumindest die Wahrheit vor ihnen zu verschweigen, was so ziemlich das Gleiche war wie eine Lüge, wie Sara so clever die Nacht zuvor festgestellt hatte.
Wird es immer so sein? Fragte er sich, als er aus dem Museum eilte. Wird es jemals einen Zeitpunkt geben, an dem Wahrheit wirklich die beste Strategie ist?
Er hatte nicht nur Sara angelogen. Er hatte auch Maya angelogen. Er hatte keinen Termin. Er wusste, wo sich Dr. Guyers Praxis befand (ganz in der Nähe des schweizer Nationalmuseums, was Reid schon mit in seinen Plan einbezogen hatte), und durch einen anonymen Anruf wusste er, dass der Doktor heute dort war, doch er hatte weder seinen Namen genannt noch einen Termin vereinbart. Er wusste gar nicht, wer dieser Typ Guyer war, außer, dass es sich um den Mann handelte, der vor zwei Jahren den Gedächtnishemmer in Kent Steeles Kopf eingepflanzt hatte. Reidigger hatte dem Arzt vertraut, doch das bedeutete nicht, dass Guyer nicht mit der Agentur verknüpft war. Oder noch schlimmer, sie könnten ihn beobachten.
Was, wenn sie über den Arzt Bescheid wüssten? sorgte er sich. Was, wenn sie ihn die ganze Zeit bespitzelt hätten?
Es war zu spät, um sich darüber noch den Kopf zu zerbrechen. Sein Plan war einfach, dort hinzugehen, den Mann zu treffen und herauszufinden, was man wegen Reids Gedächtnisverlust tun könnte, falls überhaupt irgendetwas möglich wäre. Sehe es als eine Beratung an, witzelte er zu sich selbst als er flink die Löwenstraße hinunterlief, parallel zum Limmat und auf die Adresse zu, die er im Internet gefunden hatte. Es blieben ihm etwa zwei Stunden, bis der Dokumentarfilm im Museum vorbei war. Eine Menge Zeit, das dachte er zumindest.
Dr. Guyers neurochirurgische Praxis befand sich in einem weiten, vierstöckigen, professionellen Gebäude direkt neben einer Hauptstraße und gegenüber eines Hofes einer Kathedrale. Seine mittelalterliche Architektur war ganz anders als die langweiligen amerikanischen Ärztehäuser, die er kannte. Es war schöner als die meisten Hotels, in denen Reid sich aufgehalten hatte.
Er ging die Treppen zum dritten Stockwerk hinauf und fand eine Eichentür mit einem Klopfer aus Bronze. Der Name GUYER war auf ein Messingschild graviert. Er hielt einen Moment inne, war sich nicht sicher, was sich auf der anderen Seite befände. Er war sich nicht einmal sicher, ob es gewöhnlich für Neurochirurgen war, Privatpraxen in teuren Gebäuden der Altstadt von Zürich zu haben – doch er konnte sich ebenfalls nicht daran erinnern, jemals zuvor einen aufsuchen gemusst zu haben.
Er drehte am Türknopf, er war nicht abgeschlossen.
Der Geschmack und Reichtum des schweizer Arztes waren sofort erkennbar. Die Gemälde an den Wänden waren hauptsächlich impressionistisch; es waren farbige, offene Komposition in kunstvollen Rahmen, die aussahen, als kosteten sie so viel wie einige Autos. Der van Gogh war definitiv ein Druck, doch wenn er sich nicht irrte, so war die schlaksige Skulptur in der Ecke ein Original von Giacometti.
Ich wüsste das nicht mal, wenn es Kate nicht gegeben hätte, dachte er und bestärkte seinen Grund, hier zu sein, als er den kleinen Raum durchschritt und auf einen Schreibtisch am anderen Ende zuging.
Zwei Dinge fielen ihm sofort auf der anderen Seite der Rezeption auf. Das erste davon war der Schreibtisch an sich, der aus einem einzigen, irregulär geformten Stück Palisander mit dunklen, wirbelnden Mustern in der Maserung geschnitten war. Rosenholz, bemerkte er. Der Schreibtisch kostet mindestens sechstausend Dollar.
Er lehnte es ab, sich von den Kunstwerken oder dem Schreibtisch beeindrucken zu lassen – doch die Frau dahinter war eine andere Angelegenheit. Sie blickte Reid gerade an, zog dabei eine perfekte Augenbraue hoch und trug ein Lächeln auf ihrem Schmollmund. Ihr blondes Haar umrahmte die Kontur eines exquisit geformten Gesichts mit Porzellanhaut. Ihre Augen schienen zu leuchtend blau, um echt zu sein.
“Guten Tag”, sagte sie in englisch mit einem leichten schweizerdeutschen Akzent. “Bitte setzen Sie sich, Agent Null.”
Reids Kampf-oder-Flucht-Instinkt ergriff ihn sofort, als er die Worte der Rezeptionistin vernahm. Da es ihm klar war, dass er diese Frau nicht bekämpfen würde – ziemlich klar, zumindest – entschied er sich zur Flucht. Doch auf halbem Wege zur Tür hörte er ein lautes Klicken.
Der Türknauf rasselte, doch bewegte sich nicht.
Er drehte sich um und sah die Hand der Frau unter ihrem teuren Schreibtisch. Es muss einen Knopf geben. Einen Fernverschlussmechanismus.
Dies ist eine Falle.
“Lassen Sie mich raus”, warnte er. “Sie wissen nicht, wozu ich fähig bin.”
“Das weiß ich,” antwortete sie. “Und ich versichere Ihnen, dass Sie nicht in Gefahr sind. Möchten Sie etwas Tee?” Ihr Ton klang beruhigend, als ob sie es mit einem Schizophrenen zu tun hätte, der seine Medizin nicht eingenommen hatte.
Ihm fehlten fast die Worte. “Tee? Nein, ich will keinen Tee. Ich will gehen.” Er rammte seine Schulter gegen die schwere Tür, doch sie bewegte sich nicht.
“Das wird nicht funktionieren”, erklärte ihm die Frau. “Bitte verletzen Sie sich nicht.”
Er drehte sich wieder zu ihr um. Sie war von ihrem Schreibtisch aufgestanden und hielt ihre Arme in einer nicht bedrohlichen Geste vor sich. Doch sie hat dich hier eingeschlossen, erinnerte er sich. Also wirst du diese Frau vielleicht doch bekämpfen.
“Mein Name ist Alina Guyer”, fuhr sie fort. “Erinnern Sie sich an mich?”
Guyer? Doch Reidiggers Brief hatte ausgedrückt, dass der Doktor männlich war. Außerdem war sich Reid ziemlich sicher, dass er ein solches Gesicht nicht vergäße. Sie war absolut atemberaubend.
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