»Aber Ihr habt ihn natürlich beschatten lassen - O'Connell. Jemand muss ihn in London genau beobachtet haben.«
»Oh, ja.« Quarry schüttelte sich, um seine Kleider ansatzhaft zu ordnen, strich sich die Asche von den Knien seiner Hose und zog seine zerknitterte Weste glatt. »Hal hat einen Mann gefunden. Sehr diskret und in guter Position. Einen Dienstboten, der bei einem Freund der Familie angestellt ist - das heißt, Eurer Familie.«
»Und dieser Freund ist -?«
»Der Ehrenwerte Joseph Trevelyan.« Quarry stand umständlich auf und ging als Erster aus dem Raucherzimmer. Grey blieb es überlassen, ihm nach bestem Vermögen zu folgen, während ihm mehr als nur der Tabakqualm die Sinne betäubte.
Auf grauenhafte Weise war das Ganze einleuchtend, dachte er, während er Quarry zum Ausgang folgte. Trevelyans und Greys Familien standen seit zwei Jahrhunderten in enger Verbindung, und zum Teil war es Joseph Trevelyans Freundschaft mit Hal, die überhaupt zu seiner Verlobung mit Olivia geführt hatte.
Es war keine enge Freundschaft; eine, die in gemeinsamen Bekannten, Clubs und politischen Interessen begründet lag, nicht aber in persönlicher Zuneigung. Dennoch, wenn Hal auf der Suche nach einem diskreten Mann war, den er auf O'Connells Spur ansetzen konnte, hatte er außerhalb der Armee suchen müssen - denn wer wusste schon, mit wem sich
O'Connell zusammengetan hatte, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Regiments? Also hatte er offenbar seinen Freund Trevelyan angesprochen, der ihm seinen eigenen Dienstboten empfohlen hatte. und es war einfach nur perfide Ironie, dass er, Grey, gerade jetzt wiederum gezwungen war, sich in Trevelyans Privatangelegenheiten einzumischen.
Vor dem »Beefsteak« hatte der Türsteher eine Mietdroschke angehalten; Quarry war bereits eingestiegen und winkte Grey ungeduldig.
»Kommt schon, kommt schon! Ich verhungere. Wir fahren zu Kettrick's, ja? Da machen sie eine exzellente Aalpastete. Darauf hätte ich jetzt Lust, und vielleicht ein oder zwei Eimer Starkbier dazu. Um den Qualm herunterzuspülen, was?«
Grey nickte und legte seinen Hut neben sich auf den Sitz, damit er nicht zerdrückt wurde. Quarry steckte den Kopf zum Fenster hinaus und rief dem Fahrer etwas zu, dann zog er ihn ein und ließ sich seufzend auf die schmutzigen Polster sinken.
»Also«, fuhr Quarry mit etwas lauterer Stimme fort, um sich im Rattern und Quietschen der Kutsche Gehör zu verschaffen, »dieser Mann, Trevelyans Dienstbote - Byrd ist sein Name, Jack Byrd -, hat ein Zimmer gegenüber der Schlampe gemietet, mit der O'Connell zusammengelebt hat. Ist dem Sergeant in den letzten sechs Wochen auf Schritt und Tritt durch London gefolgt.«
Grey blickte aus dem Fenster; sie hatten seit einigen Tagen schönes Wetter, doch es war im Begriff umzuschlagen. Donner grollte in der Ferne, und er konnte den nahenden Regen in der Luft spüren, die ihm das Gesicht kühlte und die Lungen erfrischte.
»Was sagt dieser Byrd denn, was in der Nacht geschehen ist, als O'Connell umgebracht wurde?«
»Nichts.« Quarry setzte sich die Perücke fester auf, und ein feuchter Windstoß fuhr durch die Kutsche.
»Er hat O'Connell aus den Augen verloren?«
Quarrys kantige Gesichtszüge verzogen sich ironisch.
»Nein, wir haben Jack Byrd aus den Augen verloren. Seit der Nacht, in der O'Connell umgekommen ist, hat man von ihm nichts mehr gehört oder gesehen.«
Die Droschke wurde langsamer, und der Kutscher trieb seine Pferde erneut an, als sie in die Straße am Fluss einbogen. Grey zog sich in Erwartung ihrer Ankunft seinen Umhang um die Schultern und ergriff seinen Hut.
»Auch kein Leichenfund?«
»Nein. Was sehr darauf hindeutet, dass das, was O'Connell zugestoßen ist, keine einfache Wirtshausrauferei war.«
Grey rieb sich das Gesicht und spürte das Kratzen der Bartstoppeln an seinem Kinn. Er hatte Hunger, und sein Leinenhemd war schmutzig nach dem anstrengenden Tag. Es war klamm, und er fühlte sich schäbig und gereizt.
»Was wiederum darauf hindeutet, dass das, was geschehen ist, nicht Scanions Schuld war - denn warum sollte er sich für Byrd interessieren?« Er war sich nicht sicher, ob ihn diese Schlussfolgerung freuen sollte oder nicht. Erwusste, dass der Apotheker ihn angelogen hatte - doch gleichzeitig hatte er Mitgefühl mit Mrs. O'Connell. Es würde ihr schlecht ergehen, wenn Scanion wegen Mordes festgenommen und verurteilt wurde - und noch schlechter, wenn man sie der Mitwisserschaft bezichtigte.
Die gegenüberliegende Sitzbank wurde in Licht und Schatten getaucht, als sie nun langsam an einigen Fackelträgern vorbeiklapperten, die einer Gruppe von Fußgängern heim leuchteten. Er sah, wie Quarry mit den Achseln zuckte. Offenbar machte ihn der Hunger genauso reizbar wie ihn selb st.
»Wenn Scanion gesehen hatte, dass Byrd O'Connell beschattet hat, ist es gut möglich, dass er Byrd auch aus dem
Weg geschafft hat - doch warum sollte er sich die Mühe machen, es zu verheimlichen? Eine Prügelei kann doch genauso gut mit mehreren Leichen enden wie mit einer. Kommt weiß Gott oft genug vor.«
»Aber wenn es jemand anders war?«, sagte Grey langsam. »Jemand, der O'Connell entweder aus dem Weg schaffen wollte, weil der zu viele Fragen stellte, oder aus Angst, verraten zu werden.?«
»Sein Auftraggeber? Oder zumindest jemand, der in dessen Auftrag gehandelt hat. Könnte sein. Und wiederum - warum die Leiche verstecken, wenn er Byrd auch auf dem Gewissen hat?«
Die Alternative lag auf der Hand.
»Er hat Byrd nicht umgebracht. Er hat ihn gekauft.«
»Verdammt wahrscheinlich. Als ich von O'Connells Tod erfahren habe, habe ich sofort einen Mann auf sein Zimmer geschickt, aber er hat nicht das Geringste gefunden. Und Stubbs hat sich genau in der Wohnung der Witwe umgesehen, als Ihr dort wart - nichts, sagt er. Nicht ein Fetzen Papier.«
Er hatte Stubbs herumstöbern sehen, während er die Absprachen zur Auszahlung von O'Connells Pension an dessen Witwe traf, hatte jedoch zum damaligen Zeitpunkt nicht besonders darauf geachtet. Doch es stimmte; Mrs. O'Connells Zimmer war spartanisch möbliert und enthielt keinerlei Bücher oder sonstige Papiere.
»Wonach haben sie denn gesucht?«
Das Bärengrollen, das als Erwiderung aus dem Dunklen kam, hätte von Quarry stammen können, hätte aber auch nur sein Magen sein können, der seinem Hunger Ausdruck verlieh.
»Ich weiß nicht mit Gewissheit, wie es aussieht«, räumte Quarry zögerlich ein. »Aber es muss ein Schriftstück sein.«
»Ihr wisst es nicht? Was ist es - oder darf ich das nicht wissen?«
Quarry betrachtete ihn, während seine Finger bedächtig neben ihm auf den Sitz trommelten. Dann zuckte Quarry mit den Achseln; zum Teufel mit der offiziellen Diskretion.
»Kurz vor unserer Rückkehr aus Frankreich hat O'Connell die Ausrüstungsnachforderungen nach Calais gebracht. Er war spät dran - alle anderen Regimenter hatten ihre Bestellungen schon seit Tagen eingereicht. Der verdammte Idiot, der sie entgegengenommen hat, hat das Ganze einfach auf seinem Schreibtisch liegen gelassen, falls Ihr Euch das vorstellen könnt! Das Büro war zwar abgeschlossen, aber trotzdem.«
Als er aus seiner ausgedehnten Mittagspause zurückkam, hatte der Schreiber die Tür aufgebrochen vorgefunden, den Schreibtisch leer geräumt - und auch der letzte Fetzen Papier war aus dem Büro verschwunden.
»Ich hätte nicht gedacht, dass ein Einzelner so viel Papier tragen könnte, wie sich normalerweise in einem solchen Büro ansammelt«, sagte Grey halb im Scherz.
Quarry machte eine ungeduldige Handbewegung.
»Es war nur so ein Schreiberloch, nicht das eigentliche Büro. Es war sonst nichts von Wichtigkeit darin - bis auf die vierteljährlichen Bedarfsmeldungen für jedes britische Regiment zwischen Calais und Prag.!«
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