Während Kalisha George und Helen wach rüttelte, sah sie die farbigen Blitze wieder. Die waren zwar schwach, aber sie waren da. Sie sausten an den Tunnelwänden auf und ab wie Kinder auf einer Rutsche, was ganz gut passte, denn in gewisser Weise waren es ja Kinder, oder etwa nicht? Beziehungsweise das, was von denen übrig geblieben war. Es waren sichtbar gewordene Gedanken, die zwischen den umherwandernden Kindern aus Station A herumhüpften, im Kreis sausten, tanzten und Pirouetten drehten. Und sahen diese Kinder jetzt nicht lebendiger aus? Wenigstens ein bisschen? Den Eindruck hatte Kalisha, aber vielleicht war das bloß Einbildung. Oder Wunschdenken. Im Institut gewöhnte man sich Wunschdenken an. Man lebte geradezu davon.
»Ich hab nämlich eine Pistole!«
»Ich auch, Lady«, sagte George. Er fasste sich in den Schritt, dann wandte er sich an Avery. Was läuft, du Miniboss?
Avery blickte einen nach dem anderen an, und Kalisha sah, dass er weinte. Dabei wurde ihr so flau im Magen, als ob sie etwas Schlechtes gegessen hätte und sich übergeben müsste.
Wenn es so weit ist, müsst ihr ganz schnell los.
Helen: Wenn was so weit ist, Avery?
Wenn ich zum großen Telefon greife.
Nicky: Mit wem willst du denn sprechen?
Mit den anderen Kids. Mit denen, die weit weg sind.
Kalisha deutete mit dem Kinn auf die Tür. Die Frau da draußen ist bewaffnet.
Avery: Darüber müsst ihr euch keine Sorgen machen. Lauft einfach los. Ihr alle.
»Wir«, sagte Nicky. » Wir, Avery. Wir laufen gemeinsam los.«
Avery schüttelte den Kopf. Kalisha versuchte, in diesen Kopf einzudringen, um herauszufinden, was da drin vor sich ging und was Avery wusste, doch alles, was sie fand, waren vier Wörter, die sich unablässig wiederholten.
Ihr seid meine Freunde. Ihr seid meine Freunde. Ihr seid meine Freunde.
»Sie sind seine Freunde, aber er kann nicht mit ihnen rausgehen«, sagte Luke.
»Wer kann nicht mit wem rausgehen?«, fragte Tim. »Von wem redest du da?«
»Von Avery. Der muss dableiben. Er ist derjenige, der mit dem großen Telefon anrufen muss.«
»Ich hab keine Ahnung, was das bedeuten soll, Luke.«
»Ich will sie rausholen, aber ihn auch!«, rief Luke. »Ich will sie alle retten! Das ist nicht fair!«
»Er ist wahnsinnig«, sagte Mrs. Sigsby. »Allmählich muss Ihnen doch klar sein, dass…«
»Schnauze!«, sagte Tim. »Das war die letzte Verwarnung!«
Sie drehte den Kopf, sah seinen Gesichtsausdruck und gehorchte.
Tim lenkte den Wagen langsam über eine Kuppe und stoppte. Ein Stück weiter vorn wurde der Weg breiter. Zwischen den Bäumen sah er Lichter und den dunklen Umriss eines Gebäudes.
»Ich glaube, wir sind da«, sagte er. »Luke, ich weiß zwar nicht, was gerade mit deinen Freunden geschieht, aber das haben wir nicht in der Hand. Trotzdem musst du dich jetzt zusammennehmen. Schaffst du das?«
»Ja«, sagte Luke heiser. Er räusperte sich und versuchte es noch einmal. »Ja. Okay.«
Tim stieg aus, ging zur Beifahrertür und zog sie auf.
»Was nun?«, fragte Mrs. Sigsby. Sie klang verdrossen und ungeduldig, doch selbst in dem schwachen Licht sah Tim, dass sie Angst hatte. Wofür es gute Gründe gab.
»Steigen Sie aus. Den restlichen Weg sitzen Sie am Steuer. Ich setze mich nach hinten zu Luke, und falls Sie irgendwelche Tricks versuchen sollten, wie beispielsweise an einen Baum zu fahren, bevor wir zu den Lichtern da kommen, schieße ich durch die Lehne direkt in Ihre Wirbelsäule.«
»Nein. Nein! «
»Doch. Wenn es stimmt, was Sie den Kindern angetan haben, dann haben Sie eine gewaltige Schuld auf sich geladen. Die ist jetzt fällig. Steigen Sie aus, setzen Sie sich ans Lenkrad und fahren Sie los. Langsam. Schritttempo.« Er machte eine kurze Pause. »Und drehen Sie den Mützenschirm nach hinten.«
Andy Fellowes rief aus dem EDV- und Überwachungsraum an. Seine Stimme klang schrill und aufgeregt. »Sie sind da, Mr. Stackhouse! Sie haben etwa hundert Meter vor der Stelle angehalten, wo die Straße zur Einfahrt wird! Die Scheinwerfer sind ausgeschaltet, aber das Licht vom Mond und von den Fenstern hier reicht aus, dass man was sehen kann. Soll ich Ihnen das Bild auf den Monitor schicken, damit Sie selbst…«
»Nicht nötig.« Stackhouse warf das Festnetztelefon auf den Tisch, bedachte das Nullfon mit einem letzten Blick – es hatte sich nicht gemeldet, Gott sei Dank – und eilte zur Tür. Sein Funkgerät steckte in der Hosentasche, auf die höchste Stufe gedreht und mit dem Knopf in seinem Ohr verbunden. Alle seine Leute hatten denselben Kanal eingestellt.
»Zeke?«
»Bin da, Chef. Mit Dr. Richardson.«
»Doug? Chad?«
»Auf dem Posten.« Das war Doug der Koch. Der sich an besseren Tagen gelegentlich beim Abendessen zu den Kindern gesetzt und ihnen Zaubertricks vorgeführt hatte, bei denen die Kleineren gelacht hatten. »Wir sehen schon das Fahrzeug. Ein schwarzer Neunsitzer. Suburban oder Tahoe, stimmt’s?«
»Stimmt. Gladys?«
»Auf dem Dach, Mr. Stackhouse. Das Zeug ist bereit. Muss nur noch die Zutaten mischen.«
»Fangen Sie an, falls Sie Schüsse hören.« Wobei die Frage jetzt nicht mehr lautete, ob das passieren würde, sondern nur wann, und bis dahin waren es jetzt sicher nur noch drei oder vier Minuten. Vielleicht weniger.
»Alles klar«, sagte Gladys.
»Rosalind?«
»Auf meinem Posten. Das Summen ist sehr laut hier unten. Ich glaube, die hecken was aus.«
Daran zweifelte Stackhouse nicht, aber lange würden sie das nicht mehr tun. Sie würden nämlich zu sehr damit beschäftigt sein zu ersticken. »Halten Sie durch, Rosalind. Bald sitzen Sie wieder in Boston bei einem Red-Sox-Spiel.«
»Wie wär’s, wenn Sie mitkommen, Sir?«
»Nur wenn ich die Yankees anfeuern darf.«
Stackhouse trat ins Freie. Nach dem heißen Tag war die Nachtluft angenehm kühl. Er spürte, wie ihn eine Welle der Zuneigung für sein Team überkam. Für alle diejenigen, die bei ihm geblieben waren. Die würden auf jeden Fall belohnt werden, wenn er da etwas mitzureden hatte. Es war eine schwere Pflicht, und sie waren dageblieben, um sie zu erfüllen. Der Mann am Lenkrad des Suburbans hatte sich in die Irre führen lassen. Er begriff nicht – konnte es gar nicht begreifen–, dass das Leben von allen Menschen, die er je geliebt hatte, davon abhing, was hier im Institut geleistet worden war. Allerdings war es damit jetzt vorbei. Und der irregeleitete Held konnte nur noch sterben.
Stackhouse ging auf den Schulbus zu, der am Fahnenmast stand, und meldete sich zum letzten Mal bei seiner Truppe. »Schützen, ihr konzentriert euch zuerst auf den Fahrer, verstanden? Auf den, der seine Mütze mit dem Schirm nach hinten trägt. Anschließend bestreicht ihr das ganze verfluchte Ding von vorne bis hinten. Zielt hoch auf die Fenster, und zertrümmert die Scheiben, damit ihr die Köpfe erwischt. Bitte bestätigen!«
Das taten sie.
»Eröffnet das Feuer aber erst, wenn ich die Hand hebe. Ich wiederhole, wenn ich die Hand hebe.«
Er stellte sich vor den Bus und legte die rechte Hand auf das kühle, mit Tautropfen überzogene Blech. Mit der Linken ergriff er den Fahnenmast. Dann wartete er.
»Losfahren«, sagte Tim. Er duckte sich hinter dem Fahrersitz auf den Boden. Luke lag unter ihm.
»Bitte zwingen Sie mich nicht dazu«, sagte Mrs. Sigsby. »Wenn ich Ihnen nur endlich erklären dürfte, weshalb dieser Ort so wichtig ist…«
»Losfahren.«
Sie fuhr los. Die Lichter kamen näher. Jetzt konnte Mrs. Sigsby den Bus sehen und den Fahnenmast. Und Trevor, der dazwischenstand.
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