»Ja.«
»Gut. Noch was. Wenn wir ankommen, will ich, dass Sie uns erwarten. Mit ausgestreckten Armen, eine Hand auf der Kühlerhaube vom Bus, die andere am Fahnenmast. Sobald die Kids im Bus sind und mein Freund Tim am Lenkrad sitzt, übergebe ich Ihnen den USB-Stick von Maureen und steige selbst ein. Verstanden?«
»Ja.«
Kurz und knapp. Stackhouse versuchte sichtlich, nicht so zu klingen wie jemand, der das große Los gezogen hatte.
Er weiß, dass Wendy ein Problem darstellen könnte, dachte Luke, weil sie die Namen von allerhand vermissten Kindern kennt, aber er glaubt, das Problem lösen zu können. Der USB-Stick ist brisanter, weil man ihn nicht so leicht zu Fake News erklären kann. Und ich serviere ihm das Ding jetzt praktisch auf dem Silbertablett. Wie kann er das ablehnen? Antwort: Das kann er nicht.
»Luke…«, mischte sich Tim ein.
Luke schüttelte den Kopf: Nicht jetzt, während ich nachdenke.
Stackhouse weiß, dass seine Lage weiterhin schlecht ist, aber jetzt sieht er einen Lichtstrahl. Gott sei Dank hat Tim mich an etwas erinnert, was mir selbst hätte einfallen sollen – Sigsby und Stackhouse stellen nicht die oberste Ebene dar. Sie müssen selbst Vorgesetzte haben, Leute, gegenüber denen sie Rechenschaft ablegen müssen. Wenn alles gelaufen ist, kann Stackhouse denen sagen, es hätte noch viel schlimmer kommen können und sie sollten ihm sogar dankbar sein, dass er die Lage entschärft habe.
»Wirst du mich noch mal anrufen, bevor ihr abfliegt?«, fragte Stackhouse.
»Nein. Ich vertraue darauf, dass Sie alles arrangieren.« Obwohl Vertrauen nicht das erste Wort war, das Luke in den Sinn kam, wenn er an Stackhouse dachte. »Wenn wir das nächste Mal miteinander reden, stehen wir uns gegenüber, vor dem Institut. Am Flughafen wartet ein Van, am Fahnenmast ein Bus. Falls Sie irgendwas verbocken, greift Officer Wendy zum Telefon und berichtet, was sie zu berichten hat. Bis dann.«
Er legte auf und sackte in sich zusammen.
Tim reichte Wendy die Pistole und deutete auf die beiden Gefangenen. Wendy nickte. Da sie jetzt Wache stand, konnte Tim Luke beiseiteziehen. Er stellte sich mit ihm an den Zaun in den Schatten, den ein Magnolienbaum warf.
»Luke, das kann doch nie im Leben klappen. Vielleicht wartet dort am Flughafen wirklich ein Wagen auf uns, aber wenn es in diesem Institut so zugeht, wie du’s erzählt hast, wird man uns dort auflauern und umbringen. Deine Freunde und die anderen Kinder wird man auch töten. Dann ist nur noch Wendy übrig. Die tut sicher, was sie kann, aber es wird trotzdem Tage dauern, bis jemand da oben aufkreuzt – ich weiß nur zu gut, wie die Behörden reagieren, wenn etwas Ungewöhnliches auftaucht. Und wenn man das Institut findet, wird es bis auf die Leichen leer sein. Falls die nicht ebenfalls verschwunden sind. Du sagst ja, die haben ein Entsorgungssystem für die…« Tim wusste nicht recht, wie er es ausdrücken sollte. »Für die verbrauchten Kinder.«
»Das ist mir alles völlig klar«, sagte Luke. »Aber es geht nicht um uns, sondern um sie. Um die Kinder. Es geht mir bloß darum, Zeit zu gewinnen, weil dort irgendwas vor sich geht. Und nicht nur dort.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich bin jetzt stärker, obwohl wir mehr als tausend Meilen vom Institut entfernt sind«, sagte Luke. »Trotzdem bin ich ein Teil von den Kindern dort, und es sind nicht mehr bloß die. Sonst hätte ich die Waffe von dem Typen niemals an die Decke richten können, indem ich daran gedacht hab. Früher war ich auf leere Pizzableche spezialisiert, erinnerst du dich?«
»Luke, ich glaube einfach nicht…«
Luke konzentrierte sich. Kurz sah er ein Bild des Telefons im Flur seines Elternhauses. Es läutete, und wenn er abhob, würde jemand fragen: »Hörst du mich?« Dann verschwand das Bild, und er sah die farbigen Blitze und hörte ein leises Summen. Die Blitze waren eher matt als grell, was gut war. Er wollte sie Tim nämlich zeigen, ohne ihm wehzutun… was nur zu leicht hätte geschehen können.
Wie von unsichtbaren Händen gestoßen, taumelte Tim vorwärts an den Maschendrahtzaun und hob gerade noch rechtzeitig die Unterarme, um sich nicht das Gesicht zu verletzen.
»Tim?«, rief Wendy.
»Nichts passiert«, sagte Tim. »Pass nur weiter auf die beiden auf, Wendy.« Er sah Luke an. »Warst du das?«
»Es kam nicht von mir, es ging nur durch mich hindurch «, sagte Luke. Weil sie jetzt Zeit hatten (wenigstens ein bisschen) und weil er neugierig war, fragte er: »Wie war es denn?«
»Wie ein starker Windstoß.«
»Natürlich war es stark«, sagte Luke. »Weil wir gemeinsam stärker sind. Sagt jedenfalls Avery.«
»Das ist dieser kleine Junge.«
»Genau. Ohnehin hatten sie schon lange niemand mehr, der so stark war. Vielleicht seit Jahren. Ich weiß nicht genau, was passiert ist, aber ich glaube, sie haben ihn in den Wassertank gesteckt. Durch die Nahtoderfahrung, die er dabei gemacht hat, sind die Stass-Lichter verstärkt worden, ohne dass er welche von den dämpfenden Injektionen bekommen hat.«
»Jetzt kann ich dir wirklich nicht mehr folgen.«
Luke hörte gar nicht hin. »Das war bestimmt eine Bestrafung dafür, dass er mir bei der Flucht geholfen hat.« Er deutete mit dem Kopf auf den Wagen. »Vielleicht weiß Mrs. Sigsby Bescheid, es könnte sogar ihre Idee gewesen sein. Jedenfalls ist der Schuss nach hinten losgegangen, sonst hätten sie nicht gemeutert. Die Kinder aus Station A haben die eigentliche Kraft, und die hat Avery freigesetzt.«
»Trotzdem haben sie offenbar nicht genügend Kraft, dass sie da rauskommen, wo sie in der Falle sitzen.«
» Noch nicht«, sagte Luke. »Aber ich glaube, das wird sich ändern.«
»Warum? Und wie?«
»Du hast mich nachdenklich gemacht, als du gesagt hast, dass Mrs. Sigsby und Stackhouse bestimmt noch jemand über sich haben. Da hätte ich eigentlich selbst drauf kommen sollen, aber da hat mir der Weitblick gefehlt. Wahrscheinlich weil Eltern und Lehrer das Einzige sind, was Kinder über sich haben. Jedenfalls… wenn es weitere Chefs gibt, wieso sollte es dann nicht noch weitere Institute geben?«
Ein Wagen bog auf den Parkplatz ein, fuhr an ihnen vorüber und verschwand mit blinkenden roten Rücklichtern. Als man ihn nicht mehr sah, redete Luke weiter.
»Vielleicht ist das Institut in Maine das einzige in Amerika, es könnte aber auch noch eins an der Westküste geben. Wie zwei Buchstützen sozusagen. Wahrscheinlich gibt’s eins in England… und in Russland… in Indien… China… Deutschland… Korea. Wenn man darüber nachdenkt, ist das total plausibel.«
»Kein Rüstungswettlauf, sondern ein mentaler Wettlauf«, sagte Tim. »Willst du darauf hinaus?«
»Wohl eher kein Wettlauf. Ich glaube, die ganzen Institute arbeiten zusammen. Sicher bin ich mir nicht, aber es kommt mir logisch vor. Sie haben ein gemeinsames Ziel, das irgendwie gut ist – indem man ein paar Kinder umbringt, hält man die Menschheit davon ab, sich selbst auszurotten. Ein Tauschhandel. Weiß Gott, wie lange das schon vor sich geht, aber bisher hat es noch nie eine Meuterei gegeben. Jetzt haben Avery und meine anderen Freunde eine angezettelt, und die könnte sich ausbreiten. Vielleicht tut sie das sogar schon.«
Tim Jamieson war kein Historiker oder Sozialwissenschaftler, aber er hielt sich auf dem Laufenden und dachte, dass Luke durchaus recht haben könnte. Eine Meuterei – oder eine Revolution, um eine weniger abwertende Bezeichnung zu verwenden – war wie ein Virus, erst recht im Informationszeitalter. So etwas konnte sich tatsächlich ausbreiten.
»Die Kraft, die jeder Einzelne von uns hat – also der Grund, weshalb man uns überhaupt gekidnappt und ins Institut geschafft hat–, ist relativ klein. Wenn wir alle zusammen sind, wird sie stärker. Besonders durch die Kids aus Station A, denn weil die keinen Verstand mehr haben, ist nur noch die Kraft übrig. Aber wenn es weitere Institute gibt, wenn die Kids dort wissen, was in unserem passiert, und wenn alle sich zusammentun…«
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