Kalisha hatte sich in einem sehr großen Haus verirrt und keine Ahnung, wie sie hinauskommen sollte, weil sie nicht wusste, wie sie hineingelangt war. Sie befand sich in einem Flur, der dem im Vorderbau ähnelte, wo sie eine Weile gelebt hatte, bevor sie nach hinten geschafft worden war, damit man ihr das Gehirn ausplündern konnte. Nur war dieser Flur mit Kommoden, Spiegeln und Garderoben eingerichtet und mit etwas, was wie ein Elefantenfuß mit Regenschirmen drin aussah. Auf einem Beistelltischchen stand ein Telefon, das genauso aussah wie das in der Küche ihres Elternhauses, und es läutete. Sie griff danach, und da sie schlecht sagen konnte, was man ihr schon mit vier Jahren beigebracht hatte (»Familie Benson«), sagte sie einfach hallo.
»¡Hola! ¿Me escuchas?« Es war die Stimme eines Mädchens, schwach und so von statischem Knistern durchsetzt, dass sie gerade noch zu verstehen war.
Was hola bedeutete, wusste Kalisha, weil sie in der Schule ein Jahr Spanisch gehabt hatte, während escuchas nicht zu ihrem dürftigen Wortschatz gehörte. Dennoch wusste sie, was das Mädchen sagte, und da wurde ihr klar, dass das Ganze ein Traum war.
»Ja, mhm, ich kann dich hören. Wo bist du? Und wer bist du überhaupt?«
Aber das Mädchen war fort.
Kalisha legte das Telefon weg und ging weiter den Flur entlang. Sie spähte in einen Raum, der wie ein Salon aus einem alten Film aussah, und dann in einen Ballsaal. Der Boden war mit schwarzen und weißen Quadraten belegt, was sie daran erinnerte, wie Luke und Nicky draußen auf dem Spielplatz Schach gespielt hatten.
Ein anderes Telefon läutete. Kalisha eilte darauf zu und kam in eine hübsche moderne Küche. Der Kühlschrank war mit Fotos, Magneten und einem Stoßstangenaufkleber mit der Aufschrift BERKOWITZ FOR PRESIDENT verziert. Obwohl sie Berkowitz überhaupt nicht kannte, wusste sie, dass das seine Küche war. Das Telefon hing an der Wand. Es war größer als das auf dem Tischchen vorher und erst recht größer als das in der Küche zu Hause. Fast kam es ihr wie ein Scherzartikel vor. Aber es läutete, weshalb sie abhob.
»Hallo? ¿Hola? Hier spricht – me llamo – Kalisha.«
Aber es war nicht das Mädchen, das spanisch sprach. Es war ein Junge. »Bonjour, tu m’entends?« Französisch. Bonjour war französisch. Andere Sprache, dieselbe Frage, und diesmal war die Verbindung besser. Nicht sehr, aber immerhin ein bisschen.
»Ja, oui, oui, ich kann dich hören! Wo bist…«
Aber der Junge war fort, und wieder ein anderes Telefon läutete. Kalisha rannte durch eine Speisekammer in einen Raum mit Strohwänden und gestampftem Lehmboden, der größtenteils von einer farbenprächtigen Webmatte bedeckt war. Das war die letzte Station eines flüchtigen afrikanischen Warlords namens Badu Bokassa, dem eine seiner Gespielinnen ein Messer in den Hals gerammt hatte. In Wirklichkeit war er allerdings von einem Haufen Kinder getötet worden, die mehrere Tausend Meilen entfernt waren. Dr. Hendricks hatte seinen Zauberstab geschwungen – bei dem es sich um eine billige Wunderkerze handelte–, und schon war Mr. Bokassa erledigt. Das Telefon auf der Matte war noch größer als die vorherigen, beinahe so groß wie eine Tischlampe. Als Kalisha den Hörer abhob, lag er schwer in ihrer Hand.
Wieder ein Mädchen, diesmal glockenklar. Je größer die Telefone waren, desto klarer war offenbar die Stimme. »Zdravo, čuješ li me?«
»Ja, ich kann dich prima hören, aber was ist das für ein Ort hier?«
Die Stimme war fort, und ein anderes Telefon läutete. Es stand in einem Schlafzimmer mit einem Kronleuchter an der Decke und war so groß wie ein Hocker. Kalisha musste den Hörer mit beiden Händen abheben.
»Hallo, hoor je me?«
»Ja! Klar! Total gut sogar! Sprich mit mir!«
Das tat der Junge, der es diesmal war, nicht. Kein Wählton. Einfach weg.
Das nächste Telefon befand sich in einem Wintergarten mit einem großen Glasdach und war so groß wie der Tisch, auf dem es stand. Sein Läuten schmerzte in den Ohren. Es war, als würde es bei einem Rockkonzert durch einen Verstärker gejagt. Kalisha rannte mit ausgestreckten Armen und gehobenen Handflächen darauf zu, um den Hörer herunterzustoßen, nicht weil sie irgendeine Offenbarung erwartete, sondern um das Ding zum Schweigen zu bringen, bevor ihr die Trommelfelle platzten.
»Ciao!«, donnerte eine Jungenstimme. »Mi senti? MI SENTI?«
Das weckte Kalisha schließlich auf.
Sie war bei ihren Freunden, bei Avery, Nicky, George und Helen. Die schliefen noch, wenn auch unruhig. George und Helen stöhnten. Nicky murmelte etwas und streckte die Hände aus, wobei sie an das große Telefon dachte, auf das sie zugerannt war, um es zum Schweigen zu bringen. Avery wand sich hin und her; er keuchte etwas, was sie bereits gehört hatte: »Hoor je me? Hoor je me?«
Offenbar träumten die dasselbe, was Kalisha geträumt hatte, und wenn man bedachte, was sie jetzt alle waren – wozu das Institut sie gemacht hatte–, war das vollkommen logisch. Wenn sie schon eine Art Gruppenkraft erzeugten, bestehend aus Telepathie und Telekinese, weshalb sollten sie dann nicht denselben Traum haben? Die einzige Frage war, wer von ihnen damit angefangen hatte. Wahrscheinlich war das Avery gewesen, weil er am stärksten war.
Ein Bienenstock, dachte sie. Das sind wir jetzt. Ein Schwarm von paranormal veranlagten Bienen.
Kalisha stand auf und blickte sich um. Sie waren immer noch im Tunnel gefangen, daran hatte sich nichts geändert, aber sie hatte den Eindruck, dass die Gruppenkraft stärker geworden war. Vielleicht war das der Grund, weshalb die Kinder aus Station A nicht eingeschlafen waren, obwohl es ziemlich spät sein musste; Kalishas Zeitgefühl war immer gut gewesen, und jetzt dachte sie, dass es mindestens halb zehn sein musste, vielleicht auch etwas später.
Das Summen war lauter denn je und hatte eine Art zyklischen Rhythmus angenommen: mmm-MMM-mmm-MMM. Sie sah mit Interesse (aber ohne große Überraschung), dass die Leuchtstofflampen an der Decke demselben Rhythmus folgten, indem sie heller wurden, ein bisschen dunkler und dann wieder heller.
TK, die man tatsächlich sehen kann, dachte sie. Auch wenn sie uns absolut nichts nützt.
Pete Littlejohn, der Junge, der sich vorher ständig auf den Kopf geklopft und dabei ja- ja -ja- ja -ja- ja gerufen hatte, kam auf sie zugesprungen. Damals im Vorderbau war Pete einerseits herzig und andererseits nervig gewesen wie ein kleiner Bruder, der sich ständig an einen hängte und zu lauschen versuchte, wenn man sich unter Freundinnen Geheimnisse erzählte. Mit seinem feuchten Mund, seinem herabhängenden Unterkiefer und seinen leeren Augen bot er jetzt einen Anblick, der schwer zu ertragen war.
»¿Me escuchas?«, fragte er. »Hörst du mich?«
»Du hast es also auch geträumt«, sagte Kalisha.
Anstatt darauf zu reagieren, wandte Pete sich wieder seinen umherwandernden Gefährten zu. Jetzt sagte er etwas, was sich nach staizez minni anhörte. Weiß Gott, was für eine Sprache das ist, dachte sie, aber bestimmt bedeutet es dasselbe wie sonst auch.
»Ich höre dich«, sagte Kalisha zu niemand Bestimmtes. »Aber was willst du eigentlich?«
Ungefähr in der Hälfte des Tunnels hatte jemand etwas mit Malkreide an die Wand geschrieben. Kalisha ging hin, um es sich anzusehen, wobei sie mehreren durch die Gegend trottenden Kids ausweichen musste. In großen violetten Buchstaben stand da: RUF DAS GROSE FON AN. NIM DAS GROSE FON AB. Also träumten die Kids aus Station A es tatsächlich auch, nur waren sie dabei wach. Da ihr Gehirn weitgehend ausgelöscht war, träumten sie vielleicht ohnehin die ganze Zeit. Was für eine fürchterliche Idee, nur zu träumen, zu träumen und zu träumen, ohne je fähig zu sein, in die reale Welt zurückzufinden.
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