Marcus Wallace’ Büro war ein winziges Rechteck von einem Raum, ohne Fenster und mit kaum Luft. An der Wand stand ein langweiliger grauer Metallschreibtisch, der so viel Platz einnahm, dass der Ledersessel des Professors an die andere Wand stieß und nur Platz für ein kleines Bücherregal in der Ecke ließ.
Der Tisch war mit Papieren bedeckt, von denen einige in zwei wacklige Drahtboxen gestapelt waren. Außerdem gab es noch ein Telefon – mit dem Wallace telefonierte, als John eintrat – und einen PC-Bildschirm, dessen Tastatur unter weiteren Papieren verborgen war. Hellgrüne Buchstaben leuchteten ihm vom Bildschirm entgegen und schienen auf Wallace’ eine Gesichtshälfte. Das ergab einen merkwürdigen Kontrast mit dem Licht der Glühbirne an der Decke.
Das Büro war anscheinend früher einmal gelb gestrichen worden, doch die Farbe war jetzt zu einer Art dreckigem Senfton verblasst.
Wallace selbst war ein gut aussehender Mann, der mit seinem kantig gestutzten Afro in der Abteilung für Asiatische Studien allerdings total deplatziert wirkte.
Während er telefonierte, bedeutete er John auf einem Klappstuhl Platz zu nehmen, der zwischen den Schreibtisch und die Tür gequetscht war.
„Ja, das verstehe ich, aber …“, sagte er und verstummte. „Ja, das weiß ich, aber … die Studenten werden …“
Wieder Stille und jetzt sah er stinksauer aus. „Ja, Sir. Ja, Sir. Okay, Sir. Auf Wiederhören.“
Er schleuderte den Hörer mit einigem Schwung auf die Gabel, knurrte einen Moment und fand dann seine Haltung wieder.
„Tut mir leid“, sagte er aufrichtig. „Wir haben gerade einen neuen Abteilungsleiter bekommen. Seine Lösung für alles ist, alles zu verändern, was in den vergangenen zwanzig Jahren funktioniert hat. Ob es gut ist oder nicht. Ich schwöre bei Gott, Mann, diese Universitätspolitik lässt die Leute in Washington wie Schulmädchen aussehen.“ Er atmete tief ein und streckte die Hand aus. „Sorry, ich bin Marcus Wallace. Sie müssen John Winchester sein.“
John erwiderte den festen Händedruck.
„Sie haben also mit Bobby gesprochen?“
„Er hat mir berichtet, dass das Schwert nicht wie erhofft funktioniert.“
„Das ist eine Untertreibung“, sagte John leicht verbittert.
„Nehmen Sie es leicht, Mann, Bobby kann nichts dafür. Seit Doragon Kokoro vor zwanzig Jahren oder so aufgetaucht ist, habe ich versucht, so viel herauszufinden wie nur möglich. Ich habe Bartow damals geholfen und seitdem habe ich Yin und Yang auf den Kopf gestellt, um mehr herauszufinden. Aber das ist nicht so leicht.“
Er fing an, in den Papieren auf dem Tisch herumzusuchen, und fuhr fort.
„Immerhin glaube ich, dass ich etwas gefunden habe, das helfen kann. Wo ist es?“ Nachdem er ein paar andere Stapel durchgesehen hatte, fand Wallace endlich, was er gesucht hatte. „Hier ist es!“
Es war ein Büchlein, das etwa halb so groß wie Johns Tagebuch war. Zuerst dachte er, dass Wallace es ihm verkehrt herum und rückwärts zeigen wollte. Dann erinnerte er sich, dass die meisten asiatischen Sprachen von rechts nach links geschrieben wurden.
Während er kurz durch die Kanji- Zeichen blätterte, sah er auch einige Tuschezeichnungen, die er unter anderen Umständen sicher gut gefunden hätte.
„Nun, was zur Hölle soll ich denn damit?“, fragte er.
Wallace schüttelte den Kopf und nahm das Büchlein wieder an sich.
„Entschuldigen Sie, Mann. Ich vergesse immer, dass nicht jeder diese Sprache lesen kann.“ Er blätterte zu einer hinteren Seite. „Hier kommt es.“ Er gab John das Buch zurück und zeigte auf eine Zeichnung.
„Ich glaube, dieses Bild sagt mehr als tausend Worte.“
John nahm das Buch und sah eine Zeichnung, die die gesamte untere Hälfte der Seite einnahm. Ein Mann hielt ein wohlbekanntes Hakenschwert und bückte sich in kampfbereiter Pose. Ihm stand ein Mann gegenüber, der von Flammen eingehüllt war und ein Katana schwang.
Besonders interessant war, dass die Kanji -Zeichen auf dem Hakenschwert leuchteten.
Er sah auf und Wallace nickte in Richtung des Buches.
„Wenn das Teil hier echt ist – und ich übersetze dieses Mistding schon seit einer Weile –, dann geht es nicht um das Schwert, sondern um die Gravur.“ Er drehte sich um, wischte mit dem Unterarm die Papiere von der Tastatur und begann zu tippen. „Ich habe schon einmal etwas vorbereitet und die Zeichen auf dem Schwert phonetisch aufgeschrieben. Wenn Sie dem Geist das nächste Mal gegenüberstehen, sollten Sie sich konzentrieren und dann die eingravierte Formel sprechen.“
„Ich glaube, dass wir Doragon Kokoro dann loswerden.“
„Sie glauben? “ John gefiel das gar nicht.
Wallace blickte ihn ruhig an.
„Sehen Sie, Mann, Sie und ich wissen beide, dass es für diese Dinge gewöhnlich keine Gebrauchsanweisung gibt.“
Mit einem Seufzer gab John nach.
„Ja, okay.“
Der Professor stand auf und zeigte zur Tür.
„Kommen Sie, der Drucker steht auf dem Flur.“
John folgte ihm aus dem engen Büro in den engen Flur zu einem Tisch, auf dem ein paar hölzerne Postfächer standen, auf denen kleine weiße Aufkleber mit den Namen der betreffenden Personen angebracht waren. John bemerkte, dass in Wallace’ Fach ein großer Umschlag steckte. Der Professor schnappte ihn im Vorbeigehen.
Der Drucker war ein Typenraddrucker, der sehr langsam war. Als sie ankamen, war er immer noch nicht fertig. Das Blatt, das er ausspuckte, enthielt nur ein paar Worte.
Wallace zog einen Hebel, der das Papier löste und riss es heraus.
„Hier, Mr. Winchester. Halten Sie das Schwert dicht an Doragon Kokoro heran, sagen Sie das hier und treten Sie zurück.“
John nahm das Papier.
„Und was, wenn es nicht wirkt?“
Wallace’ Gesicht verzog sich zu einem ironischen Grinsen.
„Rennen wie verrückt?“
John rollte mit den Augen.
„Danke sehr.“
Siebzehn
Tommy Shin verfluchte die Tatsache, dass der Alte recht gehabt hatte.
Mai-Lin hatte seine Befehle befolgt und alles besorgt, was er über das Herz des Drachen wissen musste. Tommy wusste nicht so viel, wie er gerne wollte, aber genug, um zu handeln.
Zu seinem größten Ärger war eine dieser Handlungen, erneut mit dem Alten zu sprechen. Als der Alte geäußert hatte, dass ein Geist für die Morde an seinen Vertrauten verantwortlich sein könnte, hatte Tommy das nicht einmal in Betracht gezogen. Jetzt musste er zu Kreuze kriechen.
Er konnte aber auch nicht leugnen, was er mit eigenen Augen gesehen hatte. Er hatte das Herz des Drachen in seinem Restaurant gesehen , wie es auf Lin losgegangen und durch einen Zauber verschwunden war.
Tommy musste also akzeptieren, dass dieses Wesen wirklich existierte. Das bedeutete, dass er wieder einmal den Alten um Hilfe bitten musste.
Der Joker im Spiel war der Amerikaner mit dem Schwert. Tommy wusste nicht, was er davon halten sollte – und das behagte ihm nicht. Einerseits hatte der Gaijin das merkwürdige Schwert in sein Restaurant mitgebracht. Andererseits hatte er sein Leben riskiert, um Lin zu verteidigen – einen vollkommen Fremden.
Warum sollte er so etwas tun? , fragte sich Tommy. Was springt für ihn dabei raus?
Außerdem schien er das Herz des Drachen erwartet zu haben. Warum sollte er sonst ein Schwert mit ins Shin’s Delight Restaurant bringen?
Dennoch, bis er mehr über den Mann in Erfahrung gebracht hatte, gab es nichts, was Tommy gegen ihn unternehmen konnte. Andere Vorbereitungen konnten hingegen getroffen werden – und waren es auch schon.
Tommy rief Benny und Al in sein Büro und beide kamen sofort herein.
„Setzt euch“, sagte er und zeigte auf die beiden Besucherstühle vor seinem Schreibtisch. „Ich habe jetzt einen Bericht über das Herz des Drachen bekommen – den flammenden Krieger, der unten im Restaurant aufgetaucht ist.“
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