Irgendwie wusste Großvater Campbell alles über Monster. Er lag in seinem Himmelbett und starrte den jungen Samuel so bedeutungsvoll aus seinen wässrigen Augen an, wie er nur konnte, während der Krebs in seinem Magen wütete und ihn in ständige Hustenanfälle ausbrechen ließ. Er erzählte ihm vom Claidhem-More und wie das Schwert seit dem 18. Jahrhundert eingesetzt wurde, um so viele bösartige Kreaturen zu töten, wie es nur ging.
„Und jetzt“, hatte der Großvater zwischen seinen Hustenanfällen zu Samuel gesagt, „möchte ich, dass du deine eigenen Monster damit erschlägst.“
* * *
Deanna zog das Schwert gerade noch rechtzeitig, bevor zwei Vampire sie angriffen – einer von vorne und der andere von hinten. Sie riss das Schwert hoch und stach den Ersten in den Brustkorb. Heißes Blut spritzte in alle Richtungen und die Kreatur knurrte sie an.
Sie schlug dem anderen den Ellbogen ins Gesicht – eine Verlegenheitslösung. Sie umfasste den Korbgriff des Claymore-Schwertes noch fester, zog es aus der Brust des ersten Vampirs und nutzte den Schwung, um sich auf den zu stürzen, der hinter ihr taumelte.
Das Schwert schnitt in den Arm des Vampirs und mehr Blut spritzte.
Der erste Vampir – von der ihm zugefügten Stichwunde völlig ungerührt – zog sie an den Haaren. Während ihre Haarwurzeln an der Kopfhaut rissen, versuchte Deanna, das Wesen abzuschütteln und gleichzeitig ein Auge auf den zweiten Vampir zu haben, der taumelnd seinen verletzten Arm umklammerte.
Vorhersehbarerweise stürzte sich der Erste direkt auf ihren Hals. Trotzdem erntete er nur einen Mund voller Leinen, denn er hatte sich von ihrem dicken, fleischfarbenen Halstuch täuschen lassen. Aber sie wusste, dass ihn das nur für Sekunden abhalten würde – sobald er sich von der Überraschung erholt hatte, würde er versuchen, ihre Halsschlagader zu zerfetzen.
Aber eine Sekunde war alles, was Deanna brauchte.
Sie holte mit eingeübter Leichtigkeit aus und schwang das Schwert in einem sauberen Bogen herum. Auf diese kurze Distanz schnitt das Claymore-Schwert durch den Hals des Vampirs, wenn auch in einem merkwürdigen Winkel.
Der Kopf war nicht völlig abgetrennt, stattdessen rollte er hin und her, während der Vampir am Boden lag.
„Du dreckige Schlampe!“, keuchte der andere, während er seine fleischigen Hände um Deannas Hals legte. Sie konnte nicht mehr atmen, als der Vampir fester zudrückte, und Deanna fühlte, dass er sie hochhob.
„Du wirst dafür bezahlen!“
Deanna griff panisch mit ihrer freien Hand nach dem Handgelenk des Vampirs, während sie versuchte, mit der anderen das Schwert zu schwingen.
Keine dieser beiden Taktiken war erfolgreich.
Ein Pfeifen in der Luft kündigte einen Pfeil an. Sie hörte ein Tschunk, als der Schaft in den verwundeten Arm des Vampirs einschlug. Trotz des Schmerzes, der seinen Körper durchzucken musste, drückte er trotzig ihren Hals noch ein paar weitere Sekunden lang zu. Dann brach er zusammen. Gerade noch rechtzeitig für Deanna, die bereits angefangen hatte, Sterne zu sehen. Als der Griff sich endlich löste, fiel sie neben den Vampir und konnte endlich wieder kostbare, kühle Luft einatmen.
Sie kam auf die Füße und beendete ihr Werk.
Erst dann schenkte sie ihrem Mann ein kurzes Lächeln.
„Guter Schuss.“
„Gern geschehen“, antwortete Samuel und ging mit seiner Machete gegen den Vampir vor, der ihn und Mary angegriffen hatte.
„Ich glaube“, sagte Deanna, „dass wir mal mit Vater Callapso reden müssen.“
Mary starrte sie an.
„Warum? Er war doch derjenige, der uns hierher geschickt hat.“
„Seine Informationen waren falsch“, erklärte Samuel.
„Es gibt einen großen Unterschied zwischen einem einzelnen Blutsauger und einem Nest! “
Deanna hielt das Schwert weiter in der Hand. Sie wollte es nicht in die Scheide stecken, solange es nicht gesäubert war. Sie hob mit der freien Hand den Benzinkanister auf und näherte sich ihrem Mann und ihrer Tochter.
„Es ist ja nicht so, als ob auch nur eine unserer Quellen zu hundert Prozent zuverlässig wäre“, sagte sie. „Wir müssen nur zusehen, dass wir uns auf das, was er uns sagt, größtenteils verlassen können. Wir können trotzdem froh sein, dass der Vater uns überhaupt Informationen zuspielt – und dass er nicht glaubt, wir wären total verrückt.“
Samuel blickte finster.
„Ja, sicher. Der Exorzismus, den wir vor drei Jahren für ihn erledigt haben, hat wohl das seine getan. Er schuldet uns etwas.“
Deanna setzte zu einer Antwort an, dann verbiss sie sich das und nickte in Richtung der blutigen Leichen.
„Ich will ja wirklich keinen Streit anfangen, aber …“
Mary stöhnte dramatisch auf.
„Ach, komm schon , Mom – es ist ja nicht so, dass ich euch noch nie streiten gehört habe.“
„Sie hat nicht über dich gesprochen, Fräuleinchen“, sagte Samuel. „Sie hat gemeint, dass wir noch sechs Vampirleichen loswerden und ein Haus niederbrennen müssen, damit es nicht noch einmal benutzt werden kann. Einmal ein Nest, immer ein Nest.“
„Dann mal los“, sagte Mary mitfühlend. „Lasst uns das hier hinter uns bringen, damit ich mir das Blut abwaschen kann.“
Das überraschte Deanna. Sie berührte ihr Gesicht mit dem Handgelenk ihrer Schwerthand. Sicher, der Geruch des Blutes war gegenwärtig. Sie waren schließlich alle damit getränkt.
„Und Dad?“, fuhr Mary fort. „Ich bin jetzt fünfzehn, also können wir mal mit dieser ‚Fräuleinchen‘-Sache aufhören?“
„Ich denke mal darüber nach“, sagte Samuel mit einem ironischen Lächeln.
Mary sah ihn nur böse an.
Deanna schüttelte den Kopf und wog den Benzinkanister in der Hand.
„Kommt jetzt, ihr Süßen, lasst uns an die Arbeit gehen.“
Mary hatte es immer ein bisschen kitschig gefunden, dass der Briefkasten vor dem Haus die Aufschrift FAMILIE CAMPBELL trug. Es hörte sich an wie etwas aus den guten alten Tagen, als sie ein Kind gewesen war.
Aber die guten alten Tage waren eigentlich nicht so gut gewesen – zumindest nicht so, wie die meisten Leute glaubten. Was die Leute im Fernsehen sahen, hielten sie für die Realität. Mary dagegen hatte gelernt, wie fiktional das Leben tatsächlich sein konnte.
Die Welt veränderte sich. Jeder wusste das natürlich. Dank des Fernsehens konnten alle sehen, was gerade passierte – Woodstock, Kent State, Watts, Vietnam, das Gesetz über die Bürgerrechte, der Marsch auf Washington, die Attentate auf Dr. King und Senator Kennedy, Neil Armstrong auf dem Mond – und niemand erwartete, dass alles so blieb wie gehabt.
Mary dagegen wusste seit ihrem elften Lebensjahr wie groß diese Veränderung tatsächlich war, weil sie gesehen hatte, wie ihre Eltern einen rachsüchtigen Geist exorziert hatten.
Die Mondlandung war erst ein paar Monate her. Für Mary war es fast wie ein Wunder. Weder Deanna noch Samuel schienen sich damals sonderlich dafür zu interessieren, insbesondere, weil es so aussah, als würde sich in St. Louis ein Formwandler herumtreiben. Sie bereiteten gerade den Truck darauf vor, auf die Autobahn zu fahren, um Nachforschungen anzustellen.
„Aber Dad“, hatte Mary damals gesagt. „was wäre, wenn wir in den Weltraum fliegen und vor den Monstern fliehen?“
Darauf hatte Samuel keine gute Antwort gewusst, also hatte er nur die Schultern gezuckt und seine Vorbereitungen fortgesetzt.
Es gab Zeiten, in denen Mary sich fragte, wie es wohl wäre, ein normales Leben zu führen. Meistens war sie ganz glücklich, dass es nicht so war, weil das nur ging, wenn man schlicht und einfach ignorant war. Sicher, sie würde zu Geburtstagspartys gehen und mit ihren Freunden herumhängen und alle anderen Sachen tun können, die man als Teenager eben so macht. Aber sie hätte niemals gewusst, dass jeden Moment ein Vampir, Formwandler oder eine andere eklige Kreatur sie angreifen könnte, um sie zu töten.
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