Wo sind nur unsere Getränke, dachte sie und blickte sich nach dem Kellner um.
„Ich heiße Samuel“, sagte ihr Mann ruhig. Man musste ihm lassen, dass er Jack nicht anschnauzte. „Oder lieber, ‚Mr. Campbell‘.“
„Dad …“, begann Mary, aber Bartow legte ihr eine Hand auf den Arm.
„Nein, es ist schon in Ordnung, Mary“, sagte Bartow in plötzlich unterwürfigem Ton. Dann entgegnete er: „Ich entschuldige mich für diese Respektlosigkeit, Sir.“
Samuel war überrascht und wusste nicht, wie er reagieren sollte. Deanna lächelte in ihre Serviette.
„Entschuldigung angenommen“, murmelte er.
Bartow nickte voller Selbstvertrauen, griff in seine Hemdtasche und nahm ein Päckchen Zigaretten heraus.
„Wie ich schon sagte, die Leute nennen das, was immer diese vier Menschen umgebracht hat, ‚Herz des Drachen‘.“
„Vier?“, fragte Deanna.
„Ich dachte, es wären drei?“
Bartow steckte sich eine Zigarette in den Mund und zündete sie mit einem Zippo-Feuerzeug an.
„Das war auch so, Ma’am, aber es gab noch einen in der letzten Nacht. Das SFPD hält das aus den Zeitungen raus, um eine Panik zu vermeiden. Aber ich habe da einen Typen drauf angesetzt.“ Auf Samuels fragenden Gesichtsausdruck hin fügte er hinzu: „Ich habe meinen Eltern geholfen, einen Dämon auszutreiben, der den Sohn des Typen übernommen hat. Ein bisschen Latein hilft manchmal viel – und solche Sachen erkaufen dir Dankbarkeit, die lange anhält.“
Samuel wurde etwas nachgiebiger.
„Mein Kumpel konnte mir die Akte nicht besorgen, dafür aber Informationen über die Opfer. Der erste war Michael Verlander, aber jeder nannte ihn ‚Moondoggy‘.“
„Ein Hippie“, sagte Samuel.
„Ja, Sir. Aber die Wohnung, in der er gefunden wurde, gehörte Frederick Gorzyck. Sein Aufenthaltsort ist unbekannt. Die anderen beiden waren ganz normale Einwohner von Chinatown. Einer war der Manager einer Reinigung und dem anderen gehörte ein Restaurant. Aber das Opfer aus der letzten Nacht war anders – eine Frau namens Marybeth Wenzel, eine Studentin aus Berkeley.“
„Haben die Opfer irgendwas gemein?“, fragte Samuel.
Bartow schüttelte den Kopf, während er an seiner Zigarette sog.
„Jedenfalls nichts, was jemandem aufgefallen wäre. Es ist schwer, das mit Sicherheit zu sagen, weil die Chinesen normalerweise nicht mit den Cops reden. Also weiß man über diese zwei nicht viel. Und das letzte Opfer, das Mädchen? Die macht es sogar noch schlimmer. Darum ist dichthalten die neue Parole bei der Polizei. Ein Hippie und zwei Chinesen sind eine Sache – die werden kaum bemerkt. Aber das hier ist ein nettes College-Mädchen, und das bedeutet gewöhnlich eine Menge Druck von der vierten Gewalt, den Medien.“
In diesem Moment kamen ihre Getränke. Deanna nippte wütend an ihrem 7up, weil Bartow recht hatte. Immigranten und ein Aussteiger würden nicht viel Aufsehen bei der Presse hervorrufen, aber die Zeitungen würden viel größeres Interesse zeigen, wenn etwas über das tote Mädchen nach außen drang.
„Glaubst du wirklich, dass es ein Drache ist?“, fragte Mary gespannt.
Bartow zuckte mit den Schultern und nahm einen Schluck Rotwein.
„Weiß nicht, Mary, aber überall in Chinatown flüstert man sich etwas über ‚das Herz des Drachen‘ zu.“
Samuel kippte einen großen Schluck Bier herunter.
„In Ordnung. Ihr Mädchen macht euch an die Bücher. Seht mal, ob ihr herausfinden könnt, was dieses ‚Herz des Drachen‘ ist und wie es mit dem hier zusammenhängt. Ich werde sehen, ob ich den finde, der es heraufbeschworen hat.“
Bartow richtete sich in seinem Stuhl auf.
„Was soll ich machen, Sir?“
„Wir können das von hier an übernehmen, Sohn“, sagte Samuel etwas abweisend.
„Dad“, sagte Mary mit einem wütenden Blick. „Das ist nicht fair. Wir wären ohne Jack gar nicht hier.“
Samuel wollte gerade widersprechen, aber Deanna schnitt ihm das Wort ab.
„Wir können wahrscheinlich seine Hilfe bei der Recherche brauchen“, sagte sie.
Ihr Mann warf ihr einen irritierten Blick zu, aber sie starrte einfach zurück. Samuel arbeitete extrem ungern mit anderen Jägern, das wusste sie. Aber weil Jack sie hergerufen hatte, schien es nicht richtig, ihn auszuschließen.
„Wir drei haben unsere eigene Art, die Sache anzugehen“, sagte Samuel mit gepresster Stimme. „Ich bin sicher, dass Jack das versteht.“
Bartow nahm einen letzten Zug aus seiner Zigarette und drückte sie gerade aus, als die Kellnerin das Essen brachte. Er wartete, bis sie alle vier Teller abgestellt hatte, bevor er sprach.
„Seht mal, mir ist klar, dass ich mit meinem schlimmen Fuß nicht viel ausrichten kann, aber ich kenne mich in der Bibliothek aus und ich kenne diese Stadt. Ich kann helfen.“ Dann begann er mit Messer und Gabel sein Kalbfleisch Parmigiana in ordentliche Rechtecke zu schneiden.
Samuel ignorierte sein Essen und starrte Jack an.
„Es ist auch der schlimme Fuß, der mir Sorgen macht, Jack. Ich will ehrlich mit dir sein – es gefällt mir nicht, dass ich jemandem vertrauen soll, der sich in den Fuß geschossen hat.“
Jacks Mund war voll, und Mary, die ihre Spaghetti Pomodoro um ihre Gabel wickelte, sprach, bevor er schlucken und sich verteidigen konnte.
„Dad, was ist nur mit dir los“, fragte sie. „Warum bist du so ein Arsch?“
„Ich bin kein A…“
„Er hat sich nicht selbst in den Fuß geschossen!“
„Das sagt er !“
„Und ich sage es auch, weil er mir das letzte Mal, als wir hier waren, die Wunde gezeigt hat. Der Winkel ist falsch – das kann er sich unmöglich selbst zugefügt haben.“
Deanna konnte nicht anders, als stolz zu lächeln. Sie hoffte nur, dass ihr Mann nicht darauf einging, dass Mary und Jack in einer so intimen Situation gewesen waren, ohne dass er davon wusste.
„Warum hast du das nicht vorher gesagt?“, fragte Samuel.
„Warum hast du mir nicht vertraut?“, schoss Mary zurück.
„Oder mir?“, fragte Jack, als er endlich zu Wort kam. „Sehen Sie, ich verstehe, dass Sie mich nicht mögen, Mr. Campbell, aber Sie kannten meine Eltern. Und ich verstehe die Szene, glauben Sie mir. Ich kann helfen.“
Samuel blickte Deanna an, was ihr zeigte, dass er sich zahlenmäßig unterlegen fühlte.
Deanna schob einfach nur ihre Gabel tief in ihre Pasta Primavera, um ihm zu zeigen, dass er da allein durchmusste.
Samuel spießte endlich seine Gabel in sein Osso Bucco, was ihr ein weiteres Lächeln entlockte. Er würde nie zugeben, dass er im Streit unterlegen war, aber wenn er nicht das letzte Wort beanspruchte, war das gewöhnlich ausreichend.
Sechs
Josh Friedrich liebte die Nachtschicht in der Leichenhalle.
Klar, eine Menge Leute hielten ihn deshalb für verrückt, aber Josh hatte schon vor langer Zeit aufgehört, sich darum zu scheren, was andere von ihm dachten. So konnte er nachts besser schlafen.
Oder eher tagsüber, weil er seine Nächte hier verbrachte. Im ‚Eiskasten‘ – das war sein Spitzname für den Kühlschrank, in dem die Leichen aufbewahrt wurden – und im Labor, wo er sein Ding durchzog.
Das beste daran war, dass die Cops ihn gewöhnlich nicht oft störten. Josh liebte seinen Job als Gerichtsmediziner, aber er hasste es, sich mit der Polizei herumzuschlagen. Obwohl man ihnen nicht komplett aus dem Weg gehen konnte, kamen sie nicht in die Leichenhalle, bevor es dringend notwendig war.
Also wurden Joshs Berichte entweder von einem Boten überbracht oder für jemanden hinterlegt, der sie tagsüber abholte.
Das passte Josh gut. Er konnte menschliche Körper nach Belieben untersuchen, dabei helfen, Verbrechen aufzuklären, und musste nur selten mit der Polente reden. Oder mit Reportern.
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