»Und zweitens, wenn alles niedergeschrieben ist, müssen wir das Buch so aufbewahren, dass es vor neugierigen Blicken geschützt ist.«
Ich beobachtete, wie er das Buch an keinen sichereren Platz als unter seine Matratze schob. Sollte das eine Art Probe sein? Wollte er mich in Versuchung führen, es zu stehlen?
Während ich noch hinschaute, stellte er mir eine sonderbare Frage.
»Glaubst du an das Glück, Ludlow?«
Darüber hatte ich in meinem Leben schon mehr als einmal nachgedacht. »Ich glaube, manche Menschen haben einfach mehr Glück als andere. Zum Beispiel die, die nicht in der Stadt zur Welt kommen.«
Joe lachte. »Ah, ja«, sagte er, »ein höchst unseliger Geburtsort. Die meisten, die dort geboren werden, sterben auch dort. Dir aber ist es gelungen, herauszukommen.«
»Dann habe ich also Glück gehabt.«
Joe zog die Schultern hoch. »Vielleicht ist es nicht nur Glück. Möglicherweise war es das Schicksal selbst, das dich zu mir geführt hat.«
»Schicksal? Schon eher meine beiden Füße!« Dann fragte ich ihn: »Woran glaubt Ihr? An Glück oder an Schicksal?«
Joe dachte eine Weile nach, bevor er antwortete. »Für unser Glück können wir selbst etwas tun, Ludlow. Durch unser Handeln und durch unsere Einstellung. Und damit nehmen wir Einfluss auf unser Schicksal. Gewiss ist nur eins: Dem Grab kann keiner von uns entrinnen.«
Dann überraschte er mich ein zweites Mal, indem er mir einen Shilling gab.
»Für eine gewissenhaft ausgeführte Arbeit. Steck es zu den anderen Münzen in deinem Beutel«, sagte er augenzwinkernd.

Kurz darauf gingen wir zu Bett. Als ich Joe schnarchen hörte, tastete ich hinter dem losen Mauerstein nach meinem Geldbeutel und warf den Shilling hinein. Dann wickelte ich mich in den Umhang und legte mich wieder hin. Ich fand aber keinen Schlaf, weil ich viel zu aufgewühlt war. Ich drehte mich um und dachte an Obadiah und Jeremiah Ratchet. Armer Obadiah, er war zu Recht empört über sich selbst; Grab-und Leichenräuber wurden tief verachtet. Was für eine schreckliche Ironie, wenn ausgerechnet ein Totengräber Tote wieder ausgraben muss. Je mehr ich Obadiah bedauerte, desto größer wurde meine Verachtung für Ratchet. Er hatte mich zwar nach Pagus Parvus gebracht, aber das war mehr Zufall als Absicht gewesen.
Eine Stunde verging, und ich war immer noch wach. Meine Gedanken drehten sich wie ein Karussell. Ich wusste, wenn Pa und Ma hier gewesen wären, hätten sie nicht lange überlegt, sondern Joe eins über den Kopf gezogen und das Schwarze Buch der Geheimnisse geklaut. Die Flasche auf dem Kaminsims wäre ohnehin längst geleert.
Dasselbe hätten sie von mir erwartet. Zu lügen, zu stehlen und zu betrügen war mir sozusagen in die Wiege gelegt. Aber hier in Pagus Parvus bei Joe schienen diese Eigenschaften fehl am Platz.
Ich litt unter quälender Unentschlossenheit. Mein Gewissen wollte mich zurückhalten, aber ich schäme mich zu gestehen, dass ich meiner Natur schließlich doch nachgab – trotz Joes Freundlichkeit mir gegenüber und seines Hinweises vorhin. Wie konnte man von mir erwarten, dass ich jetzt nicht das tat, was mein Leben lang selbstverständlich für mich gewesen war?

Vorsichtig zog ich das Buch unter Joes Matratze hervor und klemmte es mir unter den Arm. Ich wickelte mich fester in den Umhang und ging auf Zehenspitzen durch den Laden. Der Frosch beobachtete mich vorwurfsvoll, ich konnte Joes tiefes, lautes Atmen hören. Es überraschte mich, dass die Tür zur Straße nicht abgesperrt war. Ich öffnete sie und trat hinaus. Alles war so einfach gegangen. Kein Dielenbrett hatte geknarrt, keine Türangel gequietscht. Es schneite leicht, und die Lichter in den Fenstern warfen einen Schimmer auf die Straße. Wie in der vergangenen Nacht schienen die meisten der Einwohner von Pagus Parvus auch diesmal noch wach. Wenn ich jetzt fortginge, einfach die Straße hinunter, könnte ich auf Nimmerwiedersehen verschwinden.
Plötzlich spürte ich die Uhren in meiner Hosentasche und hielt inne. Ich lachte lautlos über meine eigene Dummheit. Was dachte ich mir eigentlich? Es war mitten in der Nacht, mitten im Winter. Hinter mir lagen ein warmes Bett, Essen und jemand, der sich anscheinend etwas aus mir machte; vor mir lagen nichts als Schnee und bittere Kälte.
Schnell ging ich wieder hinein und legte die Uhren ins Fenster zurück. Mit zitternden Händen schob ich das Schwarze Buch unter die Matratze, in der Hoffnung, Joe möge nicht aufwachen. Dann schlich ich zu meinem Platz neben dem Kamin, rollte mich neben den orangerot glühenden Kohlen zusammen und ging mit mir selber ins Gericht.
Kaum zu glauben, dass ich noch vor einem Tag in der schmutzigen Stadt gewesen war, ein unsicheres Dasein als gewöhnlicher Dieb geführt hatte und von den eigenen Eltern grausam verraten worden war. Und doch war ich jetzt hier und verdiente auf ehrliche Weise mein Geld – mit einer Arbeit, die geheimnisvoller und aufregender war, als ich es mir je hätte vorstellen können. Ludlow, sagte ich zu mir, du bist ein Trottel.
Ich sah zu Joe hinüber, der fest schlief, und da wusste ich: Was auch geschehen mochte, morgen und am übernächsten Tag und am Tag darauf, in die Stadt wollte ich nie wieder zurück. Mit meiner Vergangenheit musste ich wohl oder übel leben, aber hier bei Joe hatte ich eine Zukunft.
Kapitel 14

Von Fröschen und Beinen
Am nächsten Morgen erwachte Ludlow vom Duft warmen Brotes. Joe stand vor dem Kamin und war dabei, die Endstücke eines Brotlaibs zu rösten, die er auf den Schürhaken gespießt hatte.
»Genau zur rechten Zeit«, sagte er, als Ludlow aus seiner Ecke kam. »Hast du gut geschlafen? Also, ich war ein bisschen durcheinander.«
»Gut, ganz gut«, nuschelte Ludlow gähnend.
Joe ließ das geröstete Brot auf einen Teller gleiten und setzte sich an den Tisch. »Ich habe gestern Nacht vergessen, die Tür abzuschließen. Wir hätten sozusagen im Schlaf ermordet werden können.«
Ludlows Wangen wurden so heiß wie das Röstbrot.
Unbeirrt fuhr Joe fort: »Nun, du hast jetzt Zeit zum Nachdenken gehabt. Willst du bleiben? Die Arbeit ist nicht schwer. Du wärst mir eine große Hilfe.«
»Ich würde gern bleiben«, sagte Ludlow. »Sehr gern.«
»Dann also abgemacht. Und nun wollen wir frühstücken.«
In der Stadt hätte Ludlows Frühstück aus einem verschimmelten Stück Brot oder zähem Haferbrei bestanden. In Pagus Parvus, im Hinterzimmer des Geheimnis-Pfandleihers, war es ein wahres Festmahl. Der Tisch war überreichlich gedeckt mit geröstetem Brot, gekochten Hühnereiern, dicken Scheiben rosa Schinken, goldgelber Butter und zwei Krügen, der eine mit Bier, der andere mit frischer Milch. Sogar Besteck gab es, doch davon ließ sich Ludlow nicht bremsen: Er aß, als wäre es die letzte Mahlzeit seines Lebens. Joe sah ihm zu und staunte über den Appetit des Jungen, als Ludlow einen zweiten Becher Milch hinunterstürzte und dann die Fleischpastete in der Mitte des Tisches ins Visier nahm.
»Die hat der Fleischer heute Morgen vorbeigebracht«, sagte Joe. »Und der Bäcker das Brot. Was für eine Gastfreundschaft.«
»Vielleicht wollen die Leute nur, dass Ihr mehr von ihrem alten Plunder kauft«, murmelte Ludlow.
Joe biss von seinem Brot ab und spülte mit einem Schluck Bier nach. Mit einer Serviette, die auf seinen Knien lag, tupfte er sich das Kinn ab. Solch vornehme Umgangsformen hatte Ludlow noch nie erlebt, und er wischte sich verstohlen mit dem Ärmel über den Mund. Danach wartete er ausnahmsweise, bis er hinuntergeschluckt hatte, bevor er sprach.
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