Eigentlich konnte sie froh sein, dass er scheinbar spurlos verschwunden war. So gab es nur einen Gegner, mit dem sie es aufnehmen mussten. Und sie waren zu viert, also deutlich in der Überzahl. Okay, auf Ronnie konnte sie nicht wirklich zählen.
Sie sah zu ihm hinüber. Er hatte die Augen geschlossen und es war nicht ersichtlich, ob er im Augenblick bei Bewusstsein war, oder nicht. Zumindest war er noch am Leben, wie ihr das gleichmäßige Auf und Ab seines Brustkorbs verriet. Die Blutungen in seinem Gesicht waren inzwischen versiegt, aber unter seinen Knien hatte sich ein blutiger See gebildet, dessen Größe noch immer stetig zunahm.
„Jonas, du setzt dich auf das Sofa“, sagte Kid, der noch immer unmittelbar vor Sandy stand und das Geschehen aus der Ferne mit seinem Revolver dirigierte.
Jetzt oder nie , dachte Sandy. Wenn ich es jetzt nicht wage, ist die Chance wahrscheinlich ein für allemal dahin. Wenn er diesen Jonas erst erschossen oder ihn auch nur außer Gefecht gesetzt hat, werden Vanessa und ich kaum noch eine Chance gegen ihn haben.
Bemüht, möglichst kein Geräusch zu verursachen und damit Kids Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, begann sie, ihre Hände unter den Bund ihrer Hose zu schieben. Solange er in ihrer Nähe stand, hatte sie eine gute Chance, ihren Plan umzusetzen. Hoffentlich würden die anderen beiden schnell genug schalten, wenn es so weit war.
Sie sah, wie Jonas sich auf dem Sofa niederließ.
„So ist es gut. Vanessa, siehst du das Fass? Neben dem Sofa.“
Vanessa nickte. „Ja.“
Sandys Finger waren eiskalt, als sie sie behutsam zwischen ihre Schamlippen schob und nach dem Gegenstand tastete, den sie zuvor mit wildem Herzklopfen hineingeschoben hatte.
Jetzt hat es also doch etwas Gutes, dass der Mistkerl mir keine Unterhose gegeben hat.
„Dahinter liegen ein Seil und eine Rolle breites Klebeband. Nimm beides und gehe damit zurück zum Sofa.“
Sandy frohlockte, als ihre Finger ihr Ziel erreichten. Jetzt musste sie den Gegenstand nur noch…
In diesem Augenblick drehte Kid sich um und sah zu ihr hinunter.
„Was machst du denn da?“
Sandy spürte, wie ihr Herzschlag aussetzte. Und ohne sich selbst sehen zu können, wusste sie, dass nun auch die letzte verbliebene Farbe aus ihrem Gesicht gewichen war.
Verdammter Mist. Warum ausgerechnet jetzt, wo ich so kurz vor dem Ziel bin? Warum musstest du dich ausgerechnet jetzt umdrehen, du verfluchtes Arschloch?
Sie schloss die Augen und rechnete damit, dass Kid die Waffe heben und sie einfach erschießen würde. Aber der tödliche Schuss blieb aus.
Stattdessen lachte Kid. „Na, du hast ja vielleicht Nerven. Besorgst du´s dir etwa selbst? Wow. Ich hätte nicht gedacht, dass dich das alles hier so antörnt. Mein Kompliment. Wirklich. Vielleicht habe ich dich tatsächlich falsch eingeschätzt. Vielleicht werden wir noch länger Spaß miteinander haben, als ich gedacht habe.“
Sandy öffnete die Augen und sah ihn an.
„Mach ruhig weiter. Wenn du soviel Freude an unserem kleinen Treffen hast, möchte ich sie dir ja schließlich nicht verderben.“ Dann wandte er sich wieder Jonas und Vanessa zu.
Sandy atmete tief durch.
Puh, das war knapp. Mein Glück, dass dieser Penner so sehr von sich überzeugt ist.
Langsam zog sie ihre Hände wieder aus der Hose heraus. Ihre größte Sorge war, dass der glitschige Gegenstand, den sie mühsam mit ihrem Mittel- und Zeigefinger festhielt, ihr aus der Hand rutsche und zu Boden fiel. Das Geräusch hätte sie mit Sicherheit verraten und ihren Plan zunichte gemacht.
„Zuerst wirst du ihm mit dem Klebeband die Handgelenke zusammenbinden. Und wehe, du machst das nicht richtig. Ich kontrolliere das, wenn du fertig bist.“
Vanessa ging zu Jonas und blieb unmittelbar vor ihm stehen. Dann begann sie, nach dem Anfang des Klebebandes zu suchen.
Zufrieden betrachte Sandy das winzige Schweizertaschenmesser in ihrer Hand. Das Messer, auf dem Ronnies Initialen eingraviert waren. Das Messer, das er, lange vor ihrer gemeinsamen Zeit, von einer Exfreundin zum Geburtstag bekommen hatte und dessen bloße Anwesenheit schon so oft für Streitigkeiten zwischen ihnen beiden gesorgt hatte. Doch das alles war vergessen. Sie hätte kaum in Worte fassen können, wir dankbar sie in diesem Augenblick dafür war, es in den Händen zu halten.
Die Zeit drängte. Sie musste den Angriff starten, bevor Vanessa Jonas die Hände gefesselt hatte.
Mit zitternden Fingern klappte sie die kleine Klinge heraus. Und zum ersten Mal wünschte sie sich, sie wäre nur ein ganz klein wenig größer gewesen.
„Wird´s bald? Oder muss ich nachhelfen?“
„Nein, ich hab´s schon. Es war nur etwas schwierig, den Anfang zu finden. Hier!“ Vanessa drehte sich um und demonstrierte Kid das von der Rolle gelöste Klebeband.
„Also gut. Dann fang an.“ Er blickte kurz auf seine Armbanduhr. „Aber zügig, die Zeit wird langsam etwas knapp.“
In diesem Moment stach Sandy zu.
KAPITEL 53
Kids markerschütternder Schrei hallte durch den Keller.
Er fuhr herum und brüllte Sandy an, die sich in Erwartung übelster Schläge auf den Boden wegduckte.
Dann starrte sie wieder auf das Messer.
Die Klinge steckte bis zum Anschlag in Kids Achillessehne. Lediglich der rote Griff mit dem berühmten Kreuz ragte heraus.
„Du verdammtes Miststück. Was hast du getan?“, schrie er, während das Blut aus seiner Ferse sprudelte.
Er riss den Revolver hoch und Sandy ahnte, dass er ihr nun endgültig das Leben aushauchen würde.
Er zielte auf sie, riss die Waffe jedoch im letzten Moment herum.
Der Schuss krachte und hallte ohrenbetäubend durch den Keller.
Der am Boden liegende Ronnie zuckte zusammen, als die Kugel in seinem Bauch einschlug. Sofort bildete sich ein roter Fleck auf seinem T-Shirt, der mit rasender Geschwindigkeit größer wurde.
„Du mieses Schwein“, brüllte Sandy. Sie hatte sich vom Boden erhoben und auf Kid gestürzt, während dieser noch den Anblick des sterbenden Ronnie genoss.
Mit all ihrer Kraft hieb Sandy ihre Zähne in seinen Oberarm und biss zu. Zu ihrem eigenen Entsetzten spürte sie plötzlich das große Stück Fleisch in ihrem Mund.
Angewidert spuckte sie es aus und der blutige Klumpen landete auf dem Fußboden, unmittelbar vor Kids Füßen.
Wieder schrie er auf. Ein weiterer Schuss löste sich und die Kugel jagte ziellos durch den Keller. Dann fiel sein Revolver polternd zu Boden. Entgeistert starrte er auf das blutige Loch in seinem Arm. Doch anstatt den Revolver aufzuheben und Sandy einfach zu erschießen, fingerte er etwas aus der Gesäßtasche seiner Hose.
Sandy wurde übel, als sie den Gegenstand erkannte, den sie bereits in Kids Händen gesehen hatte, als sie auf dem Sofa liegend das Bewusstsein wiedererlangt hatte.
Dann doch lieber Tod durch Erschießen , dachte sie.
Kids Hand schnellte nach vorne und packte Sandys Haare, bevor diese eine ausweichende Bewegung machen konnte.
Sie schrie auf, als er sie im Bruchteil einer Sekunde zu sich heranzog.
Und dann spürte sie die dünne Drahtschlinge, die sich um ihren Hals legte, sich blitzschnell zusammenzog und einen fürchterlichen Schmerz auslöste, während sie sich tief ins Fleisch fraß.
Die Schlinge zog sich immer enger zusammen. Schon spürte Sandy, wie ihr das Atmen zunehmend schwerer fiel.
Röchelnd riss sie den Mund auf, doch der verzweifelte Versuch, nach Hilfe zu rufen, misslang.
Tränen stiegen ihr in die Augen und sie sah die Welt um sich herum nur noch durch einen verschwommenen Schleier.
Sie sah diese junge Frau. Vanessa.
Sie hockte teilnahmslos auf dem Sofa und starrte sie an.
Was zum Teufel ist mit ihr los? Warum hilft sie mir nicht?
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