„Ich denke schon ich…“ Aber als sie versuchte, sich aufzurichten und ihr verletztes Bein belastete, sackte sie zusammen und stöhnte vor Schmerz.
„Nein, das geht so nicht.“ Jonas griff unter ihre Arme und Beine und hob sie hoch. „Ich trage dich. Wir müssen zusehen, dass wir hier verschwinden.“
Die Schritte wurden schnell lauter.
„Schaffst du das?“
„Willst du mich veräppeln? Du Fliegengewicht.“
„Na na, übertreib mal nicht.“ Plötzlich wurde ihr Gesichtsausdruck wieder ernst. „Hast du überhaupt eine Idee, wie wir hier rauskommen sollen? Wenn wir durch den Gang gehen, durch den wir gekommen sind, laufen wir diesem Typen doch direkt in die Arme.“
„Lass mich mal machen“, erwiderte Jonas und lief los.
Mit Vanessa auf seinen Armen verließ er den Keller durch die Tür, durch die er Kid zuvor heimlich beobachtet hatte. Er folgte dem kurzen Gang bis zu der steilen Treppe und trug Vanessa die Stufen hinauf.
„Woher weißt du von diesem Ausgang?“, fragte Vanessa und Jonas glaubte zu hören, dass ihre Stimme dünner und schwächer klang, als noch vor wenigen Augenblicken.
Du musst dich beeilen. Wenn du sie nicht auch noch verlieren willst, musst du dich verdammt noch mal beeilen.
„Ich habe ihn zufällig entdeckt, als ich vom Wagen zurückgekommen bin.“
„Du wusstest also, was sich hier unten abspielt, als du zurückgekommen bist?“
„Dafür, dass es dir so schlecht geht, dass du nicht einmal mehr alleine laufen kannst, bist du ziemlich neugierig, meine Liebe. Spar dir deine Kräfte besser auf. Ich erzähle dir alles später. Okay?“
Sie nickte und schloss für einen kurzen Moment die Augen.
Sie erreichten die oberste Stufe der Treppe und traten durch die Tür hinaus ins Freie. Jonas atmete die klare Nachtluft ein.
„Hey, ihr da draußen. Bleibt ja stehen! Oder ich knall euch ab, ihr verfluchten Schweine. Was habt ihr mit meinem Bruder gemacht?“ Die Stimme, die durch den Kellergang hallte, erinnerte Jonas daran, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb, diesen Ort zu verlassen.
„Oh nein“, flüsterte Vanessa. „Hat dieser Alptraum denn nie ein Ende? Das ist er, oder?“
„Ich fürchte ja“, antwortete Jonas knapp und rannte los.
Zweige peitschten ihm ins Gesicht, doch das merkte er kaum. Sie mussten so schnell wie möglich zu seinem Wagen gelangen. Erst dort waren sie in Sicherheit.
Als sie die Hecke durchquert hatten und den Schilfgürtel erreichten, blieb er stehen.
„Wir haben zwei Möglichkeiten, auf die andere Seite zu kommen“, flüsterte er Vanessa ins Ohr. Ihre Augen waren geschlossen. Sie gab einen kaum hörbaren Laut von sich, mit dem sie ihm wohl signalisieren wollte, dass sie ihn hörte.
„Entweder wir laufen um den Teich herum. Allerdings gibt es wohl keinen Weg, auf dem wir uns ihm besser präsentieren könnten.“ Er betrachtete den inzwischen sternenklaren Nachthimmel. Der Vollmond tauchte die Umgebung in helles Licht. „Wenn wir über diese Wiese laufen, sind wir Freiwild für ihn. Wenn er wirklich die Waffe aus dem Keller mitgenommen hat, werden wir diesen Weg mit Sicherheit nicht überleben.“
Wieder flüsterte Vanessa etwas.
Er beugte sich dicht über ihr Gesicht. „Was sagst du?“
„Der andere Weg. Was ist der andere Weg?“
Jonas seufzte. „Der See. Wir könnten uns im Schilf verstecken und wenn die Luft rein ist, schwimmen wir rüber und gehen an der Stelle an Land, wo das Loch im Zaun ist. Dort drüben, wo der große Baum steht. Wir sind dann direkt am Auto und können dich ins nächste Krankenhaus bringen.“
„Hey, wo seid ihr? Wartet ihr auch brav auf mich?“
Jonas hatte keine Zeit, eine Antwort von Vanessa abzuwarten. Obwohl ihm klar war, dass sie nicht aus eigener Kraft durch den Teich würde schwimmen können, schlug er sich in das dichte Schilf der Uferzone.
Eiskaltes Wasser schwappte in seine Schuhe, kroch seine Hosenbeine empor und tränkte schließlich den Saum seines T-Shirts, als er bis zur Hüfte im Wasser stand. Der sumpfige Boden unter seinen Füßen gab nach und er versank bis zu den Knöcheln im weichen Schlick.
„Kalt. Das Wasser ist so schrecklich kalt.“ Vanessa, die noch immer in seinen Armen lag, zitterte am ganzen Körper, als das Wasser ihren Rücken umspülte.
„Eine andere Chance haben wir aber nicht. Du musst durchhalten.“
„Ich weiß wo ihr seid! Ihr könnt ruhig rauskommen. Oder wollt ihr mit dem lieben Onkel etwa Verstecken spielen? Okidoki, ich zähle bis zehn und dann komme ich euch holen! Einverstanden?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, begann er zu zählen.
„Eins… Zwei…“
„Also gut, wir müssen weg. Ich habe keine Ahnung, ob er wirklich weiß, wo wir sind, aber wenn er uns hier findet, sind wir verloren. Wir schwimmen jetzt rüber auf die andere Seite.“
„Drei… Vier…“
Jonas watete tiefer ins dunkle Wasser. Der schlammige Seegrund zerrte und saugte bei jedem Schritt an seinen Schuhen, so als wolle er sie für immer in sein nasskaltes Reich hinunterziehen. Das Wasser stand ihm schon bis zur Brust. Behutsam balancierte er Vanessa auf seinen Armen vor sich her. Ihr Kopf kippte immer wieder nach hinten, so dass er einen Arm in ihren Nacken schieben musste, damit sie kein Wasser schluckte. Es schien, als sei sie kurz davor, endgültig ohnmächtig zu werden.
„Fünf… Es ist Halbzeit! Ich komme gleich!“
Zum Glück macht das Wasser sie leichter. Sonst würde ich es niemals bis zur anderen Seite schaffen.
„Sechs…“
Immer weiter entfernte Jonas sich vom Ufer. Inzwischen hatte er das Ende des Schilfgürtels erreicht, so dass der nächste Schritt ihn hinaus ins offene Wasser führte.
Wenn er irgendwo steht, von wo aus er uns sehen kann, wird er uns ohne Schwierigkeiten abknallen, wie ein paar Teichhühner.
„Sieben…“
Das Wasser des Sees war glatt wie ein Spiegel, dem das helle Mondlicht ein geradezu zauberhaftes Aussehen verlieh. Jonas sah sich um, aber niemand war zu sehen. Konnte er es wagen?
Er hatte keine Wahl. Früher oder später würde er es ohnehin riskieren müssen. Vanessa ging es zunehmend schlechter und die Wahrscheinlichkeit entdeckt zu werden, würde mit weiter verstreichender Zeit eher größer denn kleiner werden.
„Neun… Ups, ich habe mich verzählt oder? Hallo? Waren wir nicht erst bei acht? Egal, ihr hattet sowieso mehr als genug Zeit. Zehn! Ich komme!“
Das war das Startsignal für Jonas.
Er wagte den Schritt aus dem Schutz der Pflanzen, hinaus ins offene Wasser, das ihm sofort bis zum Hals stand. Und das, obwohl er schon auf Zehenspitzen über den weichen Grund balancierte.
Wenn der See so tief ist, dass ich nicht mehr stehen kann, wird es kritisch.
Aber er hatte Glück.
Nicht nur, dass er ihren Verfolger nirgends entdecken konnte. Auch entpuppte sich das Gewässer als weniger tief, als er befürchtet hatte. Mal reichte ihm das Wasser bis zur Unterlippe, dann wieder folgte eine flachere Stelle, an dem es ihm gerade bis zur Hüfte reichte, so dass Jonas in die Hocke ging, um kein allzu perfektes Ziel für einen eventuellen Schützen abzugeben.
Doch sie erreichten das gegenüberliegende Ufer ohne weitere Zwischenfälle.
Lediglich Vanessas Zustand bereitete ihm zunehmend Sorge. Etwa seit sie die Mitte des Sees erreicht hatten, hatte sie die Augen nicht mehr geöffnet und reagierte nicht mehr auf seine Fragen.
Nach wie vor trug er sie auf seinen Armen vor sich her und watete durch den Schilfgürtel, als er plötzlich ein lautes Rascheln hinter sich hörte.
Jemand folgte ihnen durch das Schilf.
Jonas blieb stehen. Er wagte kaum zu atmen und spürte das Herz in seiner Brust hämmern. Sein Schlagen kam ihm dermaßen laut vor, dass er fürchtete, es könne sie verraten.
Читать дальше