„Du lebst. Mein Gott, ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass es dir gut geht.“ Mit zitternden Fingern löste er den Knoten hinter ihrem Kopf und befreite sie von ihrem Knebel.
„Du Arschloch!“, schrie sie ihn an und Jonas wich erschrocken zurück. „Mir geht es überhaupt nicht gut. Hast du überhaupt eine Vorstellung, was für eine scheiß Todesangst ich in den letzten Minuten hatte? Irgend so ein Verrückter ist…“ Dicke Tränen kullerten über ihr Gesicht und erstickten ihre Stimme.
„Ich weiß.“ Jonas streichelte sanft über ihr Haar. „Ich habe ihn getroffen, als ich auf dem Weg zurück zu dir war. Er hat behauptet, dass er dich mit seinem Hammer…“ Er schluckte und brach den Satz ab. Hektisch begann er, die Knoten an Vanessas Handgelenken zu lösen.
„Dazu hätte wohl auch nicht viel gefehlt“, schluchzte Vanessa. „Was ist mit ihm? Wo ist er jetzt?“
„Wir haben gekämpft und er ist über das Geländer der Galerie gestürzt.“
„Glaubst du, dass er… Ist er tot?“
„Ich weiß es nicht.“ Eilig kroch er zu ihren Füßen und befreite ihre Knöchel. „Kann schon sein. Zieh dir was über und dann lass uns so schnell wie möglich von hier verschwinden.“
„Worauf du dich verlassen kannst.“ Vanessa setzte sich auf und rieb ihre geröteten Handgelenke und Knöchel, während Jonas ihre Stiefel und Kleidungsstücke einsammelte.
Hastig zog sie ihr Höschen über, schlüpfte in ihren Rock und zog die Stiefel an. „Okay, lass uns abhauen, bevor diesem Kriminellen einfällt, dass er doch noch nicht tot ist. Im Fernsehen tauchen sie ja auch wieder auf, wenn alle glauben, dass sie schon längst gestorben sind.“
Jonas griff nach Vanessas Hand und zog sie hinter sich her.
Sie verließen das Zimmer, eilten den Gang entlang und blieben schließlich auf der Galerie stehen.
„Jonas?“
Er sah sie schweigend an, während er in die herrschende Stille lauschte. Er wollte möglichst sichergehen, dass der Angreifer nicht irgendwo in der Dunkelheit lauerte.
Vanessa senkte ihre Stimme. „Es tut mir leid.“
„Was tut dir leid?“
„Dass ich dich eben Arschloch genannt habe. Ich war nur völlig panisch. Dieser Wahnsinnige, er hätte mich um ein Haar umgebracht.“ Wieder begann sie, leise zu schluchzen.
Jonas ging auf sie zu und nahm sie in den Arm. „Komm her. Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen musst“, flüsterte er. „Schließlich war ich so bescheuert, dich alleine zu lassen. Hat er dir etwas getan? Abgesehen davon, dass er dir einen ziemlichen Schock versetzt hat, meine ich.“
Vanessa schüttelte den Kopf. „Nein. Hat er nicht.“
Jonas hoffte, dass sie die Wahrheit sagte und ihm nicht nur etwas vormachte.
„Versprichst du mir etwas?“, fragte sie ihn nach einer kurzen Pause.
„Was immer du willst.“
„Lass mich nie wieder alleine. Ja? Versprichst du mir das?“ Sie legte ihre Arme um seine Taille.
Jonas schluckte. Er spürte die aufkeimende Erektion in seiner Hose, als Vanessa sich an seinen Körper schmiegte.
Nicht jetzt, raunte ihm seine innere Stimme zu. Ganz mieses Timing.
„Ja“, sagte er nur. „Ich verspreche es.“ Dann sah er sie schweigend an. In diesem Augenblick tauchte der Mond hinter einer Wolke hervor und sein Licht fiel durch eines der Fenster im Obergeschoss. In Gestalt zweier kleiner, weißer Perlen spiegelte sich der Himmelskörper in Ihren dunklen Augen wider.
Sein Mund wurde trocken.
„Wir sollten hier verschwinden“, flüsterte er und schob sie sanft von sich weg. „Lass uns abhauen.“ Er hoffte, sich die Enttäuschung in ihrem Blick nicht bloß eingebildet zu haben, als er ihre Hand griff und sie die Stufen in die Empfangshalle hinunterzog.
„Ja, du hast recht. Wir sollten diesen Ort so schnell wie möglich verlassen und die Polizei verständigen. Die kann sich dann mal diesem Verrückten widmen. Wo liegt er eigentlich? Meinst du, er ist wirklich tot?“
Jonas blickte zur Treppe zurück. „Irgendwo da hinten, auf der anderen Seite der Galerie. Aber ehrlich gesagt möchte ich gar nicht wissen, was mit ihm los ist. Lass uns einfach zusehen, dass wir endlich hier rauskommen. Es wird höchste Zeit.“
„Hast du eigentlich dein Handy dabei?“
„Nein, liegt draußen im Wagen. Ich denke, es reicht, wenn wir die Polizei verständigen, sobald wir im Wagen sitzen und endgültig in Sicherheit sind.“
„Endgültig in Sicherheit? Glaubst du, der Typ ist doch noch nicht erledigt?“
Für einen kurzen Moment erwog er, Vanessa von seiner Beobachtung im Keller zu berichten, entschied sich aber dagegen.
Warum soll ich ihr jetzt noch mehr Angst machen? Gleich haben wir es geschafft und es reicht, wenn sie den Rest der Geschichte erfährt, wenn wir der Polizei alles erzählen.
„Nein, das glaube ich nicht. Aber sicher ist sicher. Los jetzt!“
In dem Augenblick, als Jonas Hand nach der Tür griff, um ihnen beiden den Weg hinaus in die Nacht zu ebnen, ertönte hinter ihnen ein leises Klicken.
Als hätten sie die synchrone Bewegung einstudiert, fuhren sie herum.
Jonas spürte, wie das Blut hinter seinen Schläfen zu pulsieren begann, als er den Mann erkannte, der sich im Schutz der Dunkelheit an sie herangeschlichen hatte und der nun breit grinsend vor ihnen stand.
In seiner Hand hielt er den Revolver.
„Keinen Schritt weiter, ihr zwei Hübschen. Oder die Lady hier kriegt eine Kugel in ihr hübsches Köpfchen.“
KAPITEL 51
„Mein Gott.“ Vanessas Finger krallten sich schmerzhaft in Jonas Unterarm. „Wer zum Teufel ist das?“
„Später.“
„Was soll das heißen? Später. Weißt du etwa wirklich, wer das ist? Woher?“
Jonas schluckte.
Mist.
„Das ist in der Tat eine Frage, die mich auch interessieren würde“, mischte sich der Mann mit der Waffe in das Gespräch ein. „Allerdings muss ich unser gemütliches Pläuschchen an dieser Stelle leider abbrechen. Wenigstens vorerst. Mein Bruder und ich haben nämlich noch weitere Gäste, die es sicherlich als äußerst unanständig empfänden, von ihren Gastgebern zu lange im Stich gelassen zu werden. Apropos, habt ihr meinen Bruder zufällig irgendwo gesehen? Ich möchte zu gerne wissen, wo er sich wieder rumtreibt.“
„Nein.“ Jonas schüttelte den Kopf und sah Vanessa an. Sie schien zu verstehen. Es erschien ihm alles andere als clever, dem Besitzer eines Revolvers davon zu berichten, seinen vermissten Bruder vor wenigen Minuten in einen metertiefen Abgrund gestoßen zu haben und dabei zu erwähnen, dass dieser sich bei seinem Abflug vielleicht das Genick gebrochen hatte. Nein, manchmal hielt man besser den Mund.
„Und was ist mir dir?“ Der Typ richtete seine Waffe auf Vanessa.
„Nein. Nein, wirklich. Ich habe keine Ahnung.“
„Na gut, das klären wir später. Und wehe, ihr habt mich angelogen. Da versteht der gutmütige Kid nämlich überhaupt keinen Spaß. Wenn ich also bitten dürfte.“ Er deutete mit seinem Revolver zu einer Tür auf der anderen Seite der Halle.
Jonas ergriff Vanessas Hand und langsam durchquerten sie die Halle. Kid folgte ihnen, seinen Revolver im Anschlag.
„Da geht´s lang.“ Er dirigierte Jonas und Vanessa durch eine Tür, hinter der eine steil nach unten führende Treppe begann. Da es ziemlich dunkel war, stiegen sie die Stufen langsam und vorsichtig hinunter.
Zu langsam.
„Geht das vielleicht auch ein bisschen schneller? Oder muss ich mit einer Portion Blei nachhelfen? Wer von euch beiden möchte denn zuerst? Vielleicht die Dame? Es heißt doch immer, Ladies first , oder?“
Jonas drückte Vanessas Hand und erhöhte das Tempo, in dem sie die Stufen hinabstiegen.
Am Fuß der Treppe angekommen, begann ein niedriger, aber relativ breiter Gang. Seine Decke war leicht gewölbt und bestand, ebenso wie die Wände, aus dunklen Bruchsteinen. Ein schwacher Schein schien ihnen vom Ende des Ganges her entgegen und tauchte die Umgebung in dämmriges Licht. Jonas atmete die Luft durch die Nase ein. Sie war angenehm kühl, roch aber feucht und muffig.
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