Adam erreichte einen Stapel aufeinander getürmter Zweige. Achtlos ließ er Ronnies aneinandergebundene Füße auf den Boden klatschen und machte sich daran, das Wirrwarr aus Ästen und dünnen Baumstämmen beiseite zu räumen.
Es dauerte einige Minuten, bis die Überreste eines gemauerten Brunnens unter den Hölzern sichtbar wurden. Mit den Füßen wischte Adam Kiefernnadeln und Erde beiseite. Schließlich hatte er eine etwa einen Quadratmeter große Fläche freigelegt.
Aus seiner Hosentasche förderte er einen kleinen Schlüssel zutage. Er ließ die feine Silberkette mit dem Schlüssel durch seine Finger gleiten und betrachtete sie für einen Augenblick nachdenklich.
Die zu der Kette gehörende Frau befand direkt unterhalb von Adam. Dort unten in dem finsteren Loch, durch eine Metallplatte zu seinen Füßen vom Rest der Welt abgeschottet.
Er bückte sich und schob den Schlüssel in das Vorhängeschloss, bevor er die schwere Falltür in die Höhe wuchtete.
Adam blickte hinab in den schwarzen Schlund. Das Loch war tief. Wie tief genau, wusste er nicht, da sein einziger Versuch, es zu je überprüfen, vorzeitig gescheitert war, als ihm die verdammte Taschenlampe aus der Hand gerutscht war, noch bevor er sie überhaupt eingeschaltet hatte. Sie war in die Finsternis gestürzt und irgendwo dort unten aufgeschlagen. Anschließend hatte er einfach einen Stein hinterher geworfen und die Sekunden bis zu seinem Aufprall hatten Adam zu der Erkenntnis gebracht, dass das Loch für seine Zwecke bestens geeignet war.
Geradezu perfekt.
„So Kumpel, jetzt geht’s abwärts.“
Er griff nach den zusammengebundenen Knöcheln des noch immer bewusstlosen Ronnie und zog ihn zwischen den Überresten der Brunnenwand hindurch, bis sein Körper parallel zu dem Loch lag. Dann ging er in die Knie und löste den Gürtel von Ronnies Knöcheln, bevor er ihn mit einem kräftigen Schubs in den Abgrund stieß.
Das Letzte, was Adam hörte, bevor er die Eisentür zufallen ließ und sorgfältig verschloss, war das dumpfe Geräusch, mit dem der abstürzende Körper irgendwo in der Tiefe aufschlug.
KAPITEL 30
Sandys Blick fuhr herum. Die Stimme schien aus dem Nichts zu kommen. Tatsächlich aber hatte sie ihren Ursprung in einer vollständig in der Dunkelheit liegenden Ecke des Raumes. Die Person, die gesprochen hatte, war im Schutz der Finsternis beinahe unsichtbar. Im Schneidersitz hockte sie in einem heruntergekommenen Ohrensessel.
Umständlich erhob sich die Person aus dem Sessel und trat in das flackernde Licht des Fernsehers.
Es war Kid.
Seine Finger spielten mit einem Gegenstand, wie ihn Sandy schon einmal auf einem Foto gesehen hatte. Sie wusste, wozu man so ein Ding benutzte, traute sich aber nicht, den Gedanken zu Ende zu denken.
„Herzlich willkommen in unserem kleinen Reich. Und wie gesagt, das Schreien kannst du dir sparen. Niemand wird dich hören. Hier unten haben schon viele Mädchen um Hilfe gerufen, aber keinem hat es etwas genützt.“
„Was haben Sie mit mir vor?“
Kid schüttelte langsam den Kopf. „Warum so förmlich? Wir waren doch schon beim Du angekommen.“
„Was wollen Sie von mir?“, wiederholte Sandy die Frage.
„Du solltest nicht so viele Fragen stellen. Das macht die ganze Stimmung kaputt. Schau mal hier, gefällt es dir?“ Er ließ den unheimlichen Gegenstand vor ihren Augen hin und her schaukeln, bevor er ihn schließlich in der Gesäßtasche seiner Jeans verschwinden ließ und stattdessen nach einer auf dem Boden liegenden Fernbedienung griff.
Sandys Blick wanderte automatisch zu dem Fernsehgerät, das auf einem umgedrehten Bierkasten thronte. Das Hochzeitsvideo lief noch immer und Sandy erkannte die Stelle wieder, an der das Unwetter beginnt und die Hochzeitsgesellschaft fluchtartig die Feier verlässt. Offenbar lief das Video in einer Endlosschleife.
Als Kid den Ton einschaltete, fiel der Groschen.
Guns N’ Roses. November Rain.
„Ein phantastischer Song. Was meinst du?”
„Was soll das?“
„Psst. Achte auf den Text.“
I know it's hard to keep an open heart
When even friends seem out to harm you
But if you could heal a broken heart
Wouldn't time be out to charm you?
Oh!
„Was wollen Sie mir damit sagen? Warum haben Sie mich hierher gebracht?“ Sandy versuchte, sich auf dem Sofa aufzurichten, was sich wegen ihrer sperrigen Fußfessel alles andere als einfach gestaltete.
Als sie es schließlich geschafft hatte, kam Kid auf sie zu. Er stellte die Bierflasche auf einem kleinen Tisch ab, beugte sich leicht über sie – und gab ihr eine schallende Ohrfeige.
„Hör gefälligst mit diesem albernen Sie auf. Hast du mich verstanden?“
Sandy weinte. Zwar hatte sie den Schlag kommen sehen, konnte wegen ihrer gefesselten Hände aber herzlich wenig dagegen ausrichten.
Er schlug erneut zu.
Sandys Kopf flog zur Seite, als der Schlag in ihrem Gesicht explodierte. Eine Mischung aus Schnodder und Blut tropfte auf ihr Shirt.
„Hast du gehört, was ich gesagt habe? Antworte mir gefälligst, wenn ich mit dir rede.“
„Ja, ja. Schon gut. Aber hören Sie, ich meine, hör bitte auf, mich zu schlagen“, schluchzte Sandy mit tränenerstickter Stimme.
„Okay.“ Kid setzte sich neben sie und legte seinen linken Arm auf die Rückenlehne hinter Sandys Kopf.
Sie spürte seine Finger in ihren Haaren.
„Es gibt zwei Möglichkeiten.“
Die Finger seiner rechten Hand berührten Sandys Kinn und drehten ihren Kopf langsam in seine Richtung. Noch immer lief ein feiner Faden Blut aus ihrem rechten Nasenloch und die Augenbraue darüber war rot und geschwollen.
„Entweder, du zeigst dich ein bisschen entgegenkommend und wir zwei machen uns einen netten Abend – mit allem, was dazugehört.“
„Oder?“ Ihre Stimme zitterte.
Er lächelte schief.
„Oder du entscheidest dich gegen mich und ich lade auf der Stelle meinen Bruder zu uns ein. Ich habe ihn nämlich vorhin weggeschickt, weil ich glaube, dass du mit mir besser dran bist. Ich mag dich nämlich. Und nebenbei bemerkt: Mein Brüderchen war darüber nicht besonders amüsiert.
Dann überlasse ich dich seiner Obhut. Und wenn du meine ehrliche Meinung hören willst: Er ist etwas… nun ja…, morbide veranlagt. Er hat von Zeit zu Zeit sehr unschöne Fantasien, wenn du weißt, was ich meine. Und ich kann ihn nicht immer davon abhalten, sie in die Tat umzusetzen.
Er ist wie ein Vulkan. Hier und da hilft nur ein anständiger Ausbruch, den unterirdischen Druck abzubauen. Das sind keine schönen Momente, vor allem für euch Frauen, aber sie ersparen uns allen einen völlig unkontrollierbaren Mega-Ausbruch.“
Er legte seine rechte Hand auf ihr Knie und fuhr langsam an der Innenseite ihres Oberschenkels entlang.
„Es wäre wirklich schade, wenn er dich so zurichten würde, wie unseren letzten Gast. Und bei all dem, was er mit ihr angestellt hat, hat sie hat fast vier Stunden gebraucht, bis sie endlich gestorben ist.“
Er griff hinter das Sofa und förderte den Fuß einer Tischlampe zutage. Sie hatte keinen Schirm mehr, doch die nackte Birne glühte augenblicklich auf, als Kid den kleinen Schalter umlegte. Er hielt Sandy die Glühbirne unmittelbar vor ihr rechtes Auge.
Geblendet kniff sie die Augen zusammen. Sie spürte die ungeheure Hitze, die von dem heißen Glas ausging.
„Glaub mir, das Ding macht ziemlich schmerzhafte Brandwunden.“
Einmal mehr schnürte sich Sandys Kehle zu und dem Kloß war auch durch kräftiges Schlucken nicht beizukommen. Wieder stiegen ihr Tränen in die Augen und die Vorstellung, was während der nächsten Stunden mit ihr geschehen würde, ließ die Panik zurückkehren.
Grinsend stellte Kid die Lampe neben der Couch auf dem Fußboden ab.
Читать дальше