„Aber keine Sorge. Ich wollte dir nur einen Eindruck vermitteln, auf was für ausgefallene Ideen mein Bruder von Zeit zu Zeit kommt. Wie geht es deinem Kopf?“
„Schon okay.“
Daumen und Zeigefinger von Kids rechter Hand bohrten sich schmerzhaft in Sandys Wangen, während sich sein Gesicht dem ihren bedrohlich näherte. Sie spürte seinen Atem und schloss die Augen in ständiger Erwartung der nächsten Ohrfeige.
„Lüg mich nicht an. Dieses Ätherzeug macht höllische Kopfschmerzen. Also versuch nicht, mir zu erzählen, dass es ausgerechnet bei dir nicht so ist. Hast du mich verstanden?“
Sie versuchte zu nicken, doch er hielt ihren Kopf wie in einem Schraubstock.
„Lüg mich nie wieder an, oder ich breche dir dein hübsches Näschen.“ Sein Kopf wippte nach vorne und versetzte Sandy mit der Stirn einen leichten Schlag auf den Nasenrücken. „Also, wie geht es deinem Kopf?“
„Es dröhnt wie in einem Flugzeug.“
„Na also, ist doch gar nicht so schwierig, oder?“ Lächelnd stand er auf und fummelte etwas aus seiner Hosentasche hervor. Es war eine Palette mit Pillen, von denen er eine aus der Packung drückte und sie Sandy vor den Mund hielt.
„Hier, nimm die. Damit geht es dir in ein paar Minuten besser. Wir wollen doch nicht, dass uns deine Migräne den gemütlichen Abend versaut, oder?“
Sandy schüttelte den Kopf und betrachtete misstrauisch die Tablette.
„Ganz normale Schmerzmittel. Kein Grund zur Sorge. Oder traust du mir etwa nicht?“
„Nein… ich…“
„Dann mach endlich den Mund auf“, zischte er.
Sandy befolgte den Befehl und schluckte die Tablette. Was hatte sie schon zu verlieren? Entweder war es tatsächlich ein Schmerzmittel – umso besser. Oder es war etwas anderes. Vielleicht Drogen oder ein Gift. In diesem Fall würde ihr die Einnahme vielleicht so einiges ersparen, was sie nicht bei vollem Bewusstsein erleben wollte.
Kid hielt ihr seine Bierflasche an den Mund.
„Trink einen Schluck.“
Sandy trank. Bier tropfte aus ihrem Mundwinkel. Sie verschluckte sich und musste husten.
„Nicht so gierig“, lachte Kid und setzte selbst zu einem kräftigen Schluck an.
Sandys Blick fiel erneut auf den Fernseher. Das Video hatte inzwischen wieder von vorne begonnen.
„Was hat es damit auf sich? Ist das Ihr, ich meine, dein Lieblingslied?“
Kid schaute sie mit zusammengekniffenen Augen an.
„Das war es mal. Ja.“
„Jetzt nicht mehr?“
„Nein.“
„Und wieso läuft es dann ununterbrochen? Du könntest es doch einfach ausmachen.
„Nein“, schrie Kid.
Sandy zuckte zusammen. Es ist unglaublich, wie schnell seine Stimmung zwischen entspannt und explosiv wechselt. Du musst dich verdammt in Acht nehmen. Er ist mit Sicherheit genauso verrückt wie sein Bruder.
„Ich kann es verdammt noch mal nicht einfach ausmachen . Wir müssen es hören. Du musst es hören. Verstehst du?“
Sandy überlegte einen Augenblick, welche Antwort wohl die richtige wäre. Schließlich hatte sie keine Lust auf einen weiteren Schlag ins Gesicht. Da sie sich nicht entscheiden konnte, beschloss sie, einfach bei der Wahrheit zu bleiben. „Ehrlich gesagt, nein. Ich verstehe es nicht. Hat es mit irgendetwas zu tun, das du erlebt hast? Etwas, das mit diesem Lied zusammenhängt? Eine Erinnerung?“
Sie hatte ins Schwarze getroffen.
Doch Kids verräterischer Gesichtsausdruck hielt nur einen Sekundenbruchteil an. Sofort hatte er die Fassung zurückgewonnen.
Er setzte sich so dicht neben sie, dass ihre Oberschenkel sich berührten. Seine Hand streichelte erneut über die Haut ihrer Beine…
Jetzt ist er beinahe sanft , dachte sie.
…und blieb schließlich in ihrem Schritt liegen.
Da Sandy aufgrund ihrer Fesseln keine Chance zur Gegenwehr hatte, schloss sie die Augen und schwieg.
„Möchtest du die Geschichte hören?“
Sandy schluckte. Eigentlich interessierte die Geschichte dieses Verrückten sie einen Scheiß. Aber wenn sie ein ernsthaftes Interesse an dem vorheuchelte, was Kid ihr offenbar unbedingt erzählen wollte, konnte sie auf diese Weise vielleicht etwas Zeit schinden. Zeit, die ihr möglicherweise eine gute Idee oder einen glücklichen Zufallsretter bescherte.
Vielleicht ist es wie in einem Märchen? Plötzlich kommt der Ritter auf seinem weißen Pferd und rettet mich aus der Burg des Bösewichts?
Zumindest konnte seine eigene Geschichte ihn vielleicht davon abhalten, sie permanent zu begrabschen.
„Ja“, hauchte sie. „Was ist passiert?“
„Interessiert dich das wirklich? Wenn ich herausfinde, dass dir das, was ich zu erzählen habe, in Wirklichkeit an deinem süßen Arsch vorbeigeht, dann kannst du was erleben. Also, willst du die Geschichte hören?“
„Ja. Bitte.“
„Okay, machen wir es uns also ein wenig gemütlich.“
Kid machte sich an einer Tasche zu schaffen, die in der Dunkelheit neben dem Sessel auf dem Boden gestanden hatte. Er pfiff durch die Zähne, als er sich erhob und Sandy einen kurzläufigen Revolver präsentierte.
Sandy wurde blass.
„Keine Panik. Wenn du dich nicht zu widerborstig gibst, wirst du keine nähere Bekanntschaft mit meiner kleinen Freundin machen.“ Er hielt den silbernen Lauf vor seinen Mund gab ihm einen zärtlichen Kuss. Dann legte er die Waffe auf den kleinen Tisch neben dem Sofa und ließ sich neben Sandy nieder.
Sie konnte sein Deo und das intensive Eau de Toilette riechen, als Kid ganz nah an sie heranrückte. Seine Finger streichelten über die feinen Härchen auf ihrem Unterarm.
Und dann begann er, seine Geschichte zu erzählen.
KAPITEL 31
Das Hämmern war unerträglich. Er hatte das Gefühl, sein Kopf würde jeden Augenblick in tausende Stücke zerbersten. Vorsichtig tastete seine Hand nach der Stelle an seinem Hinterkopf, an der die Schmerzen ihren Ausgangspunkt zu haben schienen.
Warme, klebrige Flüssigkeit.
Blut.
Irgendein verdammtes Arschloch hat mir die Lichter ausgeblasen.
Er sah sich um. Es war stockfinster.
Wo bin ich?
Ronnie versuchte aufzustehen, doch er brach den Versuch schlagartig ab, als er sich mit den Händen vom Boden wegdrücken wollte. Er schrie vor Schmerz auf und tastete seinen linken Unterarm ab. Direkt oberhalb der Handwurzel fühlte er eine unnatürliche Beule.
Scheiße. Das hat gerade noch gefehlt.
Er kniete auf dem Boden und lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Irgendwo in der Ferne hörte er ein leises Geräusch, dessen Ursache er sich nicht mit Sicherheit erklären konnte, das womöglich aber von der angrenzenden Landstraße herrührte.
Sein Schädel brummte und er vermutete, sich eine fette Gehirnerschütterung eingehandelt zu haben. Und in seinem Handgelenk pochte es wie Teufel.
Ein süßlicher Gestank hing in der Luft und brachte Ronnie in Verbindung mit den höllischen Kopfschmerzen um ein Haar dazu, sich zu übergeben. Der Geruch erinnerte ihn an ein Stück Fleisch, das er im vergangenen Sommer unter der Abdeckung seines Grills vergessen hatte. Nach einer knappen Woche bei über dreißig Grad war das Kotelett quasi von den Toten auferstanden und als Ronnie nichts Böses ahnend den Grill öffnete, schwappte ihm, neben einem Haufen dicker, weißer Maden, der ekelhafteste Gestank entgegen, der jemals seinen Geruchsinn heimgesucht hatte.
Bis heute.
Bis zu diesem verfluchten Moment.
Vorsichtig tastete er seine Umgebung ab. Irgendetwas lag um ihn herum auf dem Boden.
Die Dinger fühlten sich an, wie große Pakete. Sie waren weich und in etwas eingepackt, dass sich nach Plastik anfühlte.
Plötzlich glitten seine Finger über einen Gegenstand. Ronnies Herz begann heftig zu schlagen und er pfiff durch die Zähne.
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