KAPITEL 17
„Dieses Schloss…“, begann sie und deutete mit einer ausladenden Handbewegung auf das Gemäuer im Hintergrund. „…wurde irgendwann im vorigen Jahrhundert gebaut. Es gehörte einem reichen Reeder hier aus der Gegend, dessen Schiffe Handelsgüter aus Südeuropa bis nach Skandinavien transportierten. Eines Tages verlor er durch einen schweren Sturm die Hälfte seiner Flotte. Er stand von einem Tag auf den anderen vor dem Ruin.
Aus lauter Verzweiflung brachte er zunächst seine Familie und anschließend sich selbst um. Nachdem er in einer eiskalten Vollmondnacht, so wird es jedenfalls überliefert, zunächst seiner Frau und dann seinen drei Kindern die Kehlen durchgeschnitten hatte, erhängte er sich in seinem Arbeitszimmer, das sich dort oben im Turm befunden haben soll.“
„Tolle Geschichte. Aber ich glaube nicht, dass wir uns davon…“
„Psst. Hör zu. Es geht noch weiter. Da es keine Erben gab…“
„Klar, der Typ hatte ja alle umgebracht.“
„Soll ich weitererzählen, oder nicht?“ Ihre Stimme klang ein wenig verärgert.
„Sorry Darling. Go on.“
„Also, da es keine Erben gab, fiel das Schloss in den Besitz der Stadt. Über fünfzig Jahre lang stand es leer und merkwürdige Geschichten begannen die Runde zu machen. Die Menschen im Ort fingen an zu tuscheln, im Schloss gingen die Geister der ermordeten Unternehmerfamilie um. Und manch einer behauptete steif und fest, des Nachts den toten Reeder an einem Seil hinter dem Fenster seines Turmzimmers hängen gesehen zu haben. Sogar das Knarren der Deckenbalken, an denen er sich aufgehängt hat, behaupteten sie, gehört zu haben.“
„Daran glaubst du nicht wirklich, oder?“
„Natürlich nicht. Und die Leute der Stadtverwaltung auch nicht. Also beschlossen sie irgendwann, das Gebäude wieder zu nutzen. Sie sanierten es und funktionierten es zu einem Kinderheim um.“
„Okay. Und weiter?“
„Es dauerte nicht lange, bis erneut erste Gerüchte aufkamen. Gerüchte über verschwundene Kinder.“
„Du meinst, die Kinder sind aus dem Heim abgehauen?“
„Das zumindest wollte man der Allgemeinheit weismachen. Sofern man das Verschwinden nicht gänzlich bestritten hat.“
„Aber auch daran glaubst du nicht.“
„Es spielt keine Rolle, was ich glaube. Das alles geschah ja lange vor meiner Zeit. Das Heim wurde Mitte der Siebziger Jahre geschlossen. Aber die Menschen damals waren davon überzeugt, dass dort etwas Ungeheuerliches vor sich ging.“
„Und was soll das gewesen sein?“
„Es hieß immer wieder, dass dort Kinder und Jugendliche, vor allem Mädchen und junge Frauen, regelmäßig gefoltert und missbraucht wurden. Immer wieder soll es äußerst brutale Vergewaltigungen gegeben haben, an denen sich ein Großteil des Personals beteiligt hat. Regelrechte Orgien sollen abgehalten worden sein. Auch Leute von außerhalb hätten sich daran beteiligt, erzählte man sich hinter vorgehaltener Hand. Stinkreiche Typen, die mit ihren scheinheiligen Spenden die Finanzierung des Kinderheims überhaupt erst möglich gemacht haben.
Es geht sogar noch weiter. In einigen Fällen wurden Mädchen als Sexsklavinnen in geheimen Räumen und Verließen gehalten. Andere wurden als solche verkauft. An irgendwelche Perversen.
Viele der Kinder sollen die grässlichen Torturen nicht überlebt haben. Aber ihre Leichen wurden einfach weggeschafft. Diese Kinder wurden dann offiziell als entlaufen geführt und polizeilich gesucht. Natürlich ist nicht ein einziges von ihnen jemals wieder aufgetaucht.“
„Und das alles ist niemandem aufgefallen? Und woher weißt du das alles?“
„Einige Jahre vor der endgültigen Schließung des Heims verdichteten sich die Gerüchte um die schrecklichen Ereignisse und es gab sogar Hausdurchsuchungen.“
„Lass mich raten. Es wurde nie etwas entdeckt?“
„Genau so ist es. Entweder wussten die Verantwortlichen vorher Bescheid, weil sie rechtzeitig gewarnt wurden, oder das Ganze war tatsächlich so geschickt eingefädelt, dass man einfach keine Spuren gefunden hat. Auf jeden Fall kam die Sache ins Rollen, weil eine neue Leiterin des Heims von der Sache Wind bekommen hatte und nicht bereit war, die Augen davor zu verschließen.
Spenden hin oder her.
Sie hat ihre Stellung wenige Wochen nach ihrem ersten Arbeitstag gekündigt und die Polizei informiert.“
„Und dann?“
„Die Polizei hat ihre Vorwürfe scheinbar ernst genommen. Wenigstens sollte es daraufhin eine hochrichterliche Anhörung geben.“
„Sollte?“
„Ja. Am Tag vor dem angesetzten Termin wurde die ehemalige Heimleiterin von einem Auto überfahren und tödlich verletzt. Am helllichten Tag. Mitten in der Stadt. Fahrerflucht. Keine Zeugen.“
„Klingt nach einem abgekarteten Spiel.“
„Ziemlich.“
„Und damit endet die Geschichte des Horrorheims?“
„Jedenfalls ist es einige Jahre später geschlossen worden. Die genauen Gründe kenne ich nicht. Die Gerüchte um das Heim hielten sich jedenfalls hartnäckig und wurden auch niemals aufgeklärt.
Angeblich soll es die geheimen Keller und Verließe aber immer noch geben. Auch die Frage, wohin die Kinderleichen verschwunden sind, von denen immer wieder die Rede war, konnte bis heute nicht beantwortet werden. Und den Zugang zu diesen Geheimräumen hat auch noch niemand entdeckt. Wobei das Gelände ja auch abgesperrt ist und eigentlich niemand hier herumschnüffelt.“
„Oh, wirklich? Es ist abgesperrt? Ist mir gar nicht aufgefallen.“
„Spinner.“ Sie knuffte ihn freundschaftlich in die Seite.
„Auf jeden Fall bin ich davon überzeugt, dass unsere Fotos mit dieser Schauergeschichte im Rücken noch besser werden. Du erinnerst dich, was ich dir zum Thema Stimmung gesagt habe?“
Vanessa antwortete nicht und begann stattdessen, sich lasziv auf dem Baumstamm zu räkeln.
Jonas schaute durch den Sucher seiner Kamera und machte die ersten Fotos.
Das Blitzlicht seiner Kamera tauchte die Umgebung in grelles, weißes Licht, das Vanessa an ein lautloses Sommergewitter erinnerte.
Sie warf ihren Kopf nach hinten. Ihre langen Haare fielen wie ein Wasserfall über den Baumstamm und flossen geschmeidig dem Waldboden entgegen. Die unebene Rinde des Stammes kratze hart über ihren Rücken. Vanessa umfasste ihre Brüste mit beiden Händen und begann, sie gleichmäßig zu massieren.
„Perfekt! Man merkt, dass du so etwas nicht zum ersten Mal machst. Weiter so!“
Immer wieder klackte der Spiegel der Kamera und ihr Blitz riss die düstere Umgebung für Sekundenbruchteile aus dem fahlen Mondlicht.
Vanessa vergaß die Welt um sich herum, ließ sich fallen und gab sich vollends dem Shooting hin. Ihre Unterschenkel baumelten rechts und links am Baumstamm herunter. Ihr Top rutschte einige Zentimeter nach oben. Der schmale Spalt gab den Blick auf ihren flachen Bauch sowie auf ein zierliches Trible-Tattoo unmittelbar neben ihrem Nabel frei.
„Warte“, rief Jonas. „Genau so. Ja, das ist super. Spitze. Vanessa, das sind großartige Bilder.“ Er schoss noch einige Fotos aus unterschiedlichen Positionen, bevor er die Kamera auf dem Baumstamm ablegte und Vanessa seine Hand zum Aufstehen reichte.
„So, ich glaube, hier haben wir alles. Lass uns reingehen.“
Vanessa verkrampfte innerlich und wurde ruckartig aus ihrer Entspannung gerissen. Sie griff nach seiner Hand und setzte sich auf.
„Du willst da wirklich rein? Hast du mir nicht zugehört, was ich dir über das Schloss erzählt habe?“
„Doch, aber wir sind uns doch einig, dass es keine Gespenster gibt und dass die übrigen Geschichten, so grauenvoll sie auch sein mögen, uns nicht wirklich gefährlich werden können, ist auch offensichtlich. Oder?“
Vanessa schwieg einen Augenblick. Eigentlich war es ihr in dem Moment klar gewesen, als Jonas sie durch den Wald auf das Grundstück gelotst hatte. Und dennoch hatte sie insgeheim gehofft, das alte Gemäuer nicht betreten zu müssen.
Читать дальше