Stevens reicht Brian das Fläschchen und stellt sich mit verschränkten Armen vor ihn hin.
Aus Gewohnheit will Brian zum Portemonnaie greifen. »Ich weiß nicht, ob ich genug …«
»Hier wird nicht gezahlt«, meint der Arzt mit hochgezogenen Augenbrauen. Brians Geste scheint ihn etwas irritiert zu haben. »Es gibt keine Mitarbeiter, keinerlei Infrastruktur, keine Nachuntersuchungen – und wenn wir schon dabei sind, auch keinen vernünftigen Espresso oder halbwegs vernünftige Zeitungen, die man lesen könnte.«
»Oh … Verstehe«, stammelt Brian und steckt das Fläschchen mit den Pillen in die Tasche. »Und wie steht es um meine Hüfte?«
»Ein paar Quetschungen, aber nichts gebrochen«, lautet die Antwort. Stevens schaltet das Licht hinter der Plexiglasscheibe aus und schließt das Arzneimittelschränkchen. »An Ihrer Stelle würde ich mir darüber keine Sorgen machen. Sie können sich jetzt wieder anziehen.«
»Gut … Danke.«
»Mit dem Reden haben Sie es nicht so – oder?« Der Arzt wäscht sich die Hände und trocknet sie dann an einem schmutzigen Handtuch ab.
»Da haben Sie recht.«
»Ist vermutlich besser so«, sagt Stevens und wirft das Handtuch ins Waschbecken. »Sie wollen mir wahrscheinlich nicht einmal Ihren Namen verraten.«
»Nun …«
»Schon gut. Vergessen Sie es. In den Akten wird einfach nur ›unkonventioneller Mann mit angebrochenen Rippen‹ stehen. Möchten Sie mir verraten, wie es dazu gekommen ist?«
Brian zuckt mit den Achseln und knöpft das Hemd wieder zu. »Bin hingefallen.«
»Haben Sie gegen die Exemplare gekämpft?«
Brian wirft Stevens einen fragenden Blick zu. »Die Exemplare?«
»Tut mir leid … Meine Ausdrucksweise. Beißer, Zombies, Eiterbeulen – wie man sie auch nennen mag. Haben Sie sich dadurch so verletzt?«
»Ja … So ähnlich.«
»Wollen Sie meine professionelle Meinung hören? Eine Prognose sozusagen?«
»Gerne.«
»Hauen Sie ab, solange es noch geht.«
»Wie bitte? Warum?«
»Chaostheorie.«
»Hä?«
»Entropie … Imperien gehen unter, Sterne verlodern … Die Eiswürfel in unseren Drinks schmelzen.«
»Tut mir leid, da komme ich nicht ganz mit.«
Der Arzt schiebt seine Brille hoch. »Es gibt hier ein Krematorium im zweiten Untergeschoss … Heute haben wir zwei Männer verbrannt – einer hatte zwei Kinder. Gestern früh wurden sie am nördlichen Rand der Sicherheitszone von Beißern attackiert. Während der Nacht wurden sie reanimiert. Es kommen immer mehr Beißer durch … Die Barrikade ist so löchrig wie ein Sieb. Die Chaostheorie beschäftigt sich mit der Unmöglichkeit eines geschlossenen Systems, stabil zu bleiben. Diese Stadt ist dem Untergang geweiht. Es gibt niemanden, der die Zügel in der Hand hält … Gavin und seine Schergen werden immer unverschämter … Und Sie, mein Freund, sind nichts weiter als Futter.«
Brian antwortet nicht, sondern starrt an Stevens vorbei ins Leere.
Schließlich steht er auf und streckt die Hand aus. »Danke, Doc.«
Brian ist von den Schmerzmitteln ganz benebelt, als er nachts ein Klopfen an seiner Schlafzimmertür hört. Noch ehe er sich orientieren und das Licht anmachen kann, öffnet sich die Tür, und Nick kommt ins Zimmer. »Brian, bist du wach?«
»Klar«, knurrt er, pellt sich aus den vielen Decken und setzt sich auf die Bettkante. In der Wohnung haben nur wenige Steckdosen tatsächlich Strom, und in Brians Schlafzimmer gibt es keine einzige. Er schaltet die batteriebetriebene Lampe an und sieht, dass Nick ins Zimmer kommt, die Miene vor Anspannung verzerrt.
»Das musst du dir anschauen«, sagt er drängend, geht zum Fenster und schielt durch die Jalousie. »Ich habe ihn schon gestern Nacht gesehen. Heute ist es wieder das Gleiche. Zuerst hielt ich es für das Beste, es zu ignorieren.«
Brian ist zwar noch immer nicht ganz bei sich, stolpert aber ebenfalls zum Fenster. »Was gibt es?«
Hinter der Jalousie in der Dunkelheit des Parkplatzes taucht Philips Silhouette aus dem dahinterliegenden Wäldchen auf. In der Finsternis sieht er nach nicht viel mehr als einem Strich in der Landschaft aus. Seit Pennys Tod hat er stetig abgenommen, kaum noch geschlafen und so gut wie nichts gegessen. Er ist ein kranker, gebrochener Mann, und seine ausgebleichte Jeans scheint das Einzige zu sein, das seine langen dünnen Beine noch zusammenhält. Er trägt einen Eimer und wirkt merkwürdig hölzern – wie ein Schlafwandler oder ein Roboter.
»Was soll das mit dem Eimer?«, fragt Brian.
»Genau!« Nick kratzt sich nervös am Kopf. »Den hatte er letzte Nacht auch schon dabei.«
»Okay, Nick. Bleiben wir hier.« Brian schaltet die Lampe aus. »Und schauen wir, was passiert.«
Kurz darauf hören sie die Haustür. Waschküchen-Zombie wird nun lauter und rasselt mit den Ketten. Dann erklingen die typischen Grunzgeräusche, an die sich Brian und Nick schon beinahe gewöhnt haben. Plötzlich aber dringt etwas an ihre Ohren, das neu ist, das sie noch nicht kennen. Etwas Feuchtes fällt auf den gefliesten Boden, gefolgt von den animalischen Schmatzgeräuschen eines Zombies beim Fressen.
»Was zum Teufel tut er da?« Nicks Gesicht ist in dem dämmrigen Licht vom Grauen gezeichnet.
»Heiliger Strohsack«, flüstert Brian. »Das kann doch nicht wahr sein …«
Brian kommt nicht weiter, denn Nick ist bereits auf dem Weg zur Tür. Er ist unglaublich aufgebracht und will in den Flur hinaus.
Brian läuft ihm nach. »Nick, nicht …«
»Das darf doch nicht wahr sein!« Nick eilt den Gang entlang zur Waschküche. Er hämmert gegen die Tür und ruft: »Philip? Was geht da drin vor sich?«
»Hau ab!«
Obwohl man Philips Stimme nur undeutlich durch die geschlossene Tür hören kann, ist es eindeutig, dass er höchst angespannt ist.
»Nick …« Brian versucht sich zwischen Nick und die Tür zu drängen, aber es ist schon zu spät.
Nick dreht am Türknauf. Die Tür ist nicht abgeschlossen, und er stürmt hinein.
»Um Gottes willen!«
Brian nimmt seine entsetzte Reaktion wahr, ehe er selbst einen Blick in den Raum werfen kann.
Er zwängt sich in den Raum und sieht, wie das tote Mädchen an einer menschlichen Hand nagt.
Brians ursprüngliche Reaktion ist nicht die des Ekels oder der Empörung – im Gegensatz zu Nick, der fassungslos der Fütterung zuschaut. Stattdessen erfasst Brian eine große Trauer. Zuerst sagt er nichts und mustert nur seinen Bruder, der vor dem kleinen Leichnam kniet.
Ohne auf die beiden zu achten, zieht Philip ein menschliches Ohr aus dem Eimer und wartet geduldig darauf, bis das Penny-Monster die Hand verschlungen hat. Es schluckt die offensichtlich männlichen Finger mit unverhohlenem Appetit herunter und kaut genüsslich auf den blutleeren, behaarten Handknöcheln, als ob es sich um einen großen Leckerbissen handeln würde. Aus ihren Mundwinkeln läuft Speichel, und rosafarbene Spucke tropft von ihren Lippen.
Sie hat noch nicht runtergeschluckt, als Philip die Überreste des menschlichen Ohrs in die Nähe ihrer schwarzen Zähne bringt. Er hält dem Geschöpf den Leckerbissen mit der Hingabe und Fürsorge eines Priesters hin, der einem Gemeindemitglied die Hostie reicht. Die Penny-Kreatur verschlingt das menschliche Knorpelgewebe im Handumdrehen.
»Ich haue ab«, bringt Nick Parsons schließlich hervor, dreht sich auf der Stelle um und stürmt hinaus.
Brian kniet sich neben seinen Bruder. Er wird nicht laut. Er beschuldigt ihn keines Fehltritts, denn Brian selbst ertrinkt in Kummer. Er fragt nur: »Was geht hier vor sich, Junge?«
Philip lässt den Kopf hängen. »Er war schon tot … Sie wollten ihn verbrennen … Ich habe ihn in einem Sack hinter der Klinik gefunden … Er ist auf natürliche Weise gestorben … Ich habe mir nur ein paar Stücke geschnappt … Niemand wird etwas merken …«
Читать дальше