«Wie wär’s, wenn wir die Dosis verringerten?», schlug Claud vor. «Könnten wir nicht den Inhalt einer Kapsel auf vier Rosinen verteilen?»
«Ich glaube, das ließe sich machen.»
«Aber wird der vierte Teil einer Kapsel für einen Vogel genügen?»
Der Bursche schien Nerven wie Stricke zu haben. Es war gefährlich genug, um diese Jahreszeit auch nur einen einzigen Fasan aus Mr. Hazels Wäldern zu holen, und er wollte gleich mit dem ganzen Bestand aufräumen.
«Ein Viertel ist überreichlich», erwiderte ich.
«Bist du sicher?»
«Rechne dir’s selbst aus. Es geht nach Körpergewicht, und folglich würden die Fasanen immer noch etwa zwanzigmal mehr als nötig bekommen.»
«Dann werden wir’s also mit dem vierten Teil der Dosis probieren», entschied Claud und rieb sich die Hände. Er stellte eine kurze Berechnung an. «Das ergibt hundertsechsundneunzig Rosinen.»
«Ist dir auch klar, was das bedeutet?», fragte ich. «Das Präparieren wird stundenlang dauern.»
«Wenn schon!», rief er. «Dann gehen wir eben erst morgen. Wir weichen die Rosinen über Nacht ein und können sie vormittags und nachmittags fertig machen.»
Und so geschah es.
Nun, vierundzwanzig Stunden später, waren wir unterwegs. Wir schritten schnell aus, und nach ungefähr vierzig Minuten näherten wir uns der Stelle, wo der Pfad nach rechts abbog und auf dem Hügelkamm zu dem großen Wald führte, in dem die Fasanen lebten. Bis dahin hatten wir noch eine Meile zu gehen.
«Ich darf doch wohl annehmen, dass die Wildhüter keine Gewehre haben», sagte ich.
«Alle Wildhüter sind bewaffnet.»
Das hatte ich befürchtet.
«Hauptsächlich wegen der kleinen Raubtiere.»
«Aha.»
«Natürlich schließt das nicht aus, dass sie auch mal einem Wilderer eins aufbrennen.»
«Du machst Witze.»
«Keineswegs. Aber sie schießen nur von hinten. Wenn man wegrennt, meine ich. Sie knallen einem gern auf fünfzig Schritt Entfernung in die Beine.»
«Das dürfen sie nicht!», rief ich. «So etwas ist strafbar!»
«Wildern auch», versetzte Claud.
Eine Weile gingen wir stumm nebeneinanderher. Die Sonne stand hinter der hohen Hecke zu unserer Rechten, und der Weg lag im Schatten.
«Sei froh, dass wir heute leben und nicht vor dreißig Jahren», begann Claud von neuem. «Damals schossen sie sofort auf Anruf.»
«Glaubst du das?»
«Ich weiß es», erwiderte er. «Wenn ich als kleiner Bengel nachts in die Küche kam, habe ich meinen Alten oft genug bäuchlings auf dem Tisch liegen sehen, während ihm meine Mutter mit einem Kartoffelmesser die Schrotkugeln aus den Hinterbacken kratzte.»
«Hör auf», sagte ich. «Du machst mich nervös.»
«Jetzt glaubst du’s mir, wie?»
«Ja.»
«Zuletzt war er über und über mit kleinen weißen Narben bedeckt. Sah aus wie beschneit.»
«Ja», sagte ich. «Schon gut.»
«Wildererarsch nannte man es damals», fuhr Claud fort. «Und im ganzen Dorf gab es keinen Mann, der nicht wenigstens ein paar solcher Narben gehabt hätte. Aber mein Alter hielt den Rekord.»
«Gratuliere», murmelte ich.
«Ich wollte wirklich, er wäre jetzt hier», meinte Claud gedankenvoll. «Er hätte alles darum gegeben, heute Abend dabei zu sein.»
«Ich würde ihm gern meinen Platz abtreten», sagte ich.
Wir hatten den Kamm des Hügels erreicht und sahen nun den düsteren Hochwald über uns. Hinter den Bäumen ging die Sonne unter, und kleine Goldfunken blitzten durch das Geäst.
«Gib mir die Rosinen», sagte Claud.
Ich reichte ihm die Tüte, und er steckte sie in die Hosentasche.
«Im Wald wird nicht mehr gesprochen», mahnte er. «Geh immer hinter mir her und sieh zu, dass du keine Zweige abbrichst.»
Fünf Minuten später hatten wir es geschafft. Der Weg, von einer niedrigen Hecke begrenzt, führte drei- bis vierhundert Schritte am Waldrand entlang. Claud kroch auf allen vieren durch die Hecke, und ich folgte ihm.
Im Wald war es kühl und dunkel. Kein Sonnenlicht fiel herein.
«Das ist ja geradezu gespenstisch», sagte ich.
«Psst!»
Claud war ganz Auge und Ohr. Er ging dicht vor mir, hob die Füße sehr hoch und setzte sie vorsichtig auf den feuchten Boden. Sein Kopf war unaufhörlich in Bewegung; er ließ den Blick von einer Seite zur anderen wandern und hielt Umschau, ob irgendwo Gefahr drohte. Ich versuchte, das Gleiche zu tun, gab es jedoch bald auf, da ich hinter jedem Baum einen Wildhüter sah.
Im Dach des Waldes tauchte nun ein großes Stück Himmel auf, und ich wusste, dass wir uns der Lichtung näherten. Claud hatte mir erzählt, die Lichtung sei die Stelle im Wald, wo die jungen Fasanen Anfang Juli ausgesetzt und dann von den Wildhütern gefüttert, getränkt und bewacht würden. Viele Vögel blieben aus Gewohnheit bis zum Beginn der Jagd dort.
«In der Lichtung gibt es immer eine Menge Fasanen», hatte er gesagt.
«Und auch Wildhüter, nehme ich an.»
«Ja, aber ringsum ist Gebüsch, und das hilft.»
Wir liefen in raschen, kurzen Sprüngen geduckt von Baum zu Baum, machten immer wieder halt, warteten, lauschten, rannten dann weiter und knieten schließlich im Schutze einer dichten Gruppe von Erlen unmittelbar am Rande der Lichtung. Claud grinste, knuffte mich in die Rippen und deutete durch die Zweige auf die Fasanen.
Die Lichtung wimmelte von Vögeln. Es müssen mindestens zweihundert gewesen sein, die zwischen den Baumstümpfen herumstolzierten.
«Da siehst du’s», flüsterte Claud.
Der Anblick war überwältigend – eine Art Wirklichkeit gewordener Wilderertraum. Und wie nah sie waren! Einige standen kaum zehn Schritte von unserem Versteck entfernt. Die plumpen Hennen waren gelblich braun und so fett, dass ihre Brustfedern beinahe die Erde streiften. Die Hähne waren schön und geschmeidig, mit langen Schwänzen und leuchtend roten Ringen um die Augen, wie scharlachrote Brillen. Ich blickte Claud von der Seite an. Auf seinem breiten Gesicht lag ein Ausdruck höchster Verzückung. Mit leicht geöffnetem Mund starrte er aus glasigen Augen auf die Fasanen.
Ich glaube, dass alle Wilderer ähnlich reagieren, wenn sie Wild sichten. Sie sind wie Frauen, die im Schaufenster eines Juweliers riesige Smaragde erspähen. Der Unterschied ist nur, dass Frauen weniger wählerisch in den Methoden sind, deren sie sich später bedienen, um den Schmuck zu erbeuten. Ein Wildererarsch ist nichts gegen die Qualen, die ein weibliches Wesen bereitwillig auf sich nimmt.
«Aha», hörte ich Claud leise sagen, «da ist ja der Wildhüter.»
«Wo?»
«Drüben auf der anderen Seite, hinter dem dicken Baum. Sei vorsichtig.»
«Mein Gott!»
«Schon gut. Er kann uns nicht sehen.»
Zusammengekauert beobachteten wir den Wildhüter. Der kleine Mann mit einer Mütze auf dem Kopf und einem Gewehr unter dem Arm stand unbeweglich. Er glich einem in die Erde gerammten Pfahl.
«Komm, wir gehen», flüsterte ich.
Das Gesicht des Mannes war von dem Mützenschirm beschattet, aber ich hatte den Eindruck, dass er zu uns herüberschaute.
«Ich bleibe hier nicht», sagte ich.
«Psst!», machte Claud.
Langsam, ohne die Augen von dem Wildhüter abzuwenden, griff er in die Tasche und holte eine Rosine heraus. Er legte sie in die rechte Handfläche und schleuderte sie mit einem kleinen Schwung des Handgelenks durch die Luft. Ich sah sie über die Büsche fliegen und dicht hinter zwei Hennen niederfallen, die neben einem alten Baumstumpf standen. Beide Vögel drehten sich rasch um, als die Rosine aufprallte. Die eine Henne hüpfte hin und pickte etwas auf, was zweifellos die Rosine war.
Ich behielt den Wildhüter im Auge. Er hatte sich nicht gerührt.
Claud warf eine zweite Rosine auf die Lichtung, dann eine dritte, eine vierte und eine fünfte.
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