»Statt der Fische. Genau.«
»Sie sind komisch.«
»Er arbeitet bei Eschatology, Inc.«, wandte sich Nathan an Patrick. »So ist er immer. Man muss ihn einfach mögen. Hoffen wir, dass er Recht hat.«
Die Bibliothek war ein Zusammenprall architektonischer Epochen, ein Sandstein- und Glasklotz aus den 1950er Jahren, an dem ein Rotziegelklotz aus den Neunzigern klebte; ein weiteres alterndes Bauwerk, das seit einem Jahrzehnt oder länger nicht mehr renoviert worden war. Um das Gebäude betreten zu können, mussten sie erneut einen Sicherheitskordon überwinden. Diesmal bestand er aus LaRei-Leuten, und die Kontrollen waren erheblich schärfer als bei den Polizei- und Militärsperren anderenorts.
Ein offener Bereich im Erdgeschoss der Bibliothek war für eine Konferenz hergerichtet worden; schlichte Klappstühle reihten sich vor einem Podium. Es war eine heimelige Szenerie, fand Patrick, als wären sie zu einer Gemeindeversammlung hier, um über Bauanträge zu diskutieren. Aber in den hinteren Sitzreihen hockten schattenhafte Gestalten wie Alice und Camden, Wachleute und Aufpasser. Und etwa zwanzig der rund fünfzig Stühle waren bereits von anderen Männern und Frauen besetzt. Viele der Gesichter erkannte Patrick sofort aus Nachrichtenmedien, von Tagungen und persönlichen Kontakten wieder. In diesem Raum waren Leute versammelt, im Vergleich zu denen Patrick und sogar Nathan Lammockson arm wie Kirchenmäuse waren.
Dies war LaRei, eine exklusive Geheimgesellschaft, die in den Jahren vor der Überschwemmung als Quelle von Kontakten bezüglich guter Schulen, exklusiver Ferienorte und sündhaft teurer Objekte wie Armbanduhren und Schmuck gegründet und nun eine Art Survivalisten-Netz der Superreichen geworden war. LaRei, wo man selbst mit einem Nettovermögen von einer Milliarde Dollar auf verschlossene Türen stieß; ohne Nathans Unterstützung wäre Patrick nicht hier gewesen.
An der Stirnseite des Raumes, neben dem Podium, stand eine schlanke Schwarze von ungefähr vierzig Jahren in einem zerschlissenen Overall, der früher vielleicht einmal AxysCorp-blau gewesen war. Sie baute gerade eine Kristallkugel auf, ein großes, dreidimensionales Projektionssystem, das ein Bild der sich drehenden Erde zeigte. Patrick erkannte Thandie Jones.
Der hübsche Erdball, dessen blauer Schein Glanzlichter auf die polierten Holzvertäfelungen und die Bücherreihen in den Regalen warf, zog Holles Aufmerksamkeit auf sich. Wie Patrick erwartet hatte, begann sie sich jedoch rasch zu langweilen. Er ließ sie auf den Fußboden gleiten und den Inhalt seiner Umhängetasche erforschen; sie zog B?cher heraus. Als sie ihren Angel einschaltete, wehten ein paar Takte Musik durch Patricks Kopf, bevor sie das Ger?t zum Schweigen brachte. Ihr aktuelles Lieblingsst?ck war Paul Simons ?Graceland?. Niemand machte mehr neue Musik, aber das spielte f?r sie keine Rolle; sie entwickelte ihre eigenen Vorlieben und arbeitete sich durch Patricks Sammlung, in der ihr alles so neu war, als w?re es gestern erst geschrieben worden.
Dann bemerkte sie ein anderes Kind, ein blondes kleines Mädchen ungefähr in ihrem Alter, das auf der anderen Seite des Raumes saß. Sie starrten einander an, als ob die Erwachsenen um sie herum so fern und unwichtig wären wie Wolken.
6
Ein stämmiger Weißer von vielleicht sechzig Jahren mit haarlosem Schädel und rundem, blassem Gesicht baute sich vor Thandie auf. »Sind Sie so weit, Dr. Jones?« Er drehte sich zum Publikum um. »Ich glaube, Sie kennen mich alle. Ich bin Edward Kenzie, Vorsitzender von LaRei.« Er sprach mit einem rauen Chicagoer Akzent. Seine Stimme wurde nicht verstärkt, aber die Gruppe war so klein und die leere Bibliothek so still, dass Patrick ihn problemlos verstehen konnte. »Meine kleine Tochter, Kelly, kennen Sie vielleicht noch nicht.« Er deutete auf das Kind, das mit Holle spielte. »Aber in gewissem Sinn sind wir heute ihretwegen hier.« Seine Finger waren dick und weich, bemerkte Patrick, mit nikotingelben Flecken an den Spitzen, ein seltsamer, atavistischer Anblick.
»Viele von uns haben vor sieben Jahren Dr. Jones’ Vortrag beim IPCC gehört«, fuhr Kenzie fort. »Nun, da ich wie sie aus Chicago komme, habe ich ihre berufliche Laufbahn seit damals ebenso verfolgt wie die von ihr verfassten Berichte und wissenschaftlichen Beiträge, und ich kann Ihnen sagen, dass jede ihrer damaligen Vorhersagen praktisch hundertprozentig eingetroffen ist, und jede unserer Vorhersagen über die Untätigkeit unserer Regierungen bestürzenderweise auch. Wir haben sie deshalb gebeten, noch einmal zu uns zu sprechen, uns sozusagen eine aktualisierte Fassung ihres Vortrags beim Weltklimarat zu halten. Anschließend möchte ich Ihnen einen Vorschlag zu unserem weiteren Vorgehen unterbreiten. Dr. Jones.? Und er nahm mit verschr?nkten Armen und konzentrierter Miene Platz.
Thandie ließ den Blick durch den Raum schweifen. Sie wirkte abgehärtet und wettergegerbt, wie eine Feldforscherin eben. »Danke. Ich bin Thandie Jones. Meine Spezialgebiete sind Ozeanographie und Klimatologie. Offiziell gehöre ich zur NOAA, der Wetter- und Ozeanographiebehörde der Vereinigten Staaten, die zufällig eine Dienststelle in Boulder, Colorado, hat, also noch oberhalb des steigenden Meeresspiegels. Ich war bei einer der ersten aufsehenerregenden Überschwemmungen dabei, 2016 in London, und habe seitdem noch ein paar der darauf folgenden dramatischen Ereignisse miterlebt – vielfach in historischer Zeit beispiellose hydrologische Katastrophen …«
Sie sprach von einer weltweiten Gemeinschaft von Klimaforschern und anderen Fachleuten, die die immer schneller aufeinander folgenden Ereignisse beobachteten. Es gab nach wie vor Seminare, nach wie vor so etwas wie die formale Publikation und den Wissenschaftsprozess. Aber in der Regel konnten sie die gewaltigen Erschütterungen nur registrieren und zu erraten versuchen, was als Nächstes geschehen würde.
»Bezahlt werde ich dafür, Vorhersagemodelle für das Meer und das Klima zu entwickeln und die Regierung in Denver bei ihren Zukunftsplanungen zu unterstützen. Berüchtigt bin ich, wie Sie vermutlich wissen, für meine Spekulationen über die Ursache und den möglichen Ausgang der globalen Flutkatastrophe. «
Sie wandte sich ihrer rotierenden Kristallkugel zu, der sich drehenden, dreidimensionalen Erde, einer optischen Täuschung, die von herumwirbelnden Bildschirmen, Linsen und Spiegeln sowie mehreren Projektoren erzeugt wurde. Patrick erinnerte sich, dass sie 2018 ein ähnliches Display benutzt hatte, und er fragte sich, ob es genau dieselbe Apparatur war. H?chstwahrscheinlich. ?Dies ist die Erde, wie wir sie vor Beginn der Flut kannten, im Jahr 2012.? Man sah eine wolkenlose Welt; die vertrauten Formen der Kontinente hoben sich braun-gr?n gegen einen blauen Ozean ab. ?Und hier leben wir heute.? Sie dr?ckte auf eine Taste.
Die Meere schimmerten und stiegen, und das Land schmolz dahin. Das Wasser radierte breite Streifen von China weg, überspülte Nordeuropa bis tief nach Russland hinein und verschlang in Südamerika ein Stück von Amazonien. Patricks Blick wurde von Großbritannien angezogen. Südengland war weitgehend verschwunden, der Rest des Landes hatte sich in einen Archipel von Hochlandgebieten verwandelt.
In Nordamerika hatte das erbarmungslose Meer Florida ausgelöscht und die Ostküstenstaaten bis nach Maine hinauf sowie die Staaten am Golf von Mexiko bis nach Kentucky im Norden überflutet. Im Westen war der Ozean bis tief in die Täler Kaliforniens hinein vorgedrungen. Großstädte waren im Wasser versunken und aufgegeben worden: New York, Boston, New Orleans, sogar Washington DC. Der Verlust so großer Teile der alten Vereinigten Staaten östlich der Ozarks hatte zu einer massiven Vertreibung der Bevölkerung geführt. Amerika war so furchtbar jung, dachte Patrick. Vor gerade einmal zweihundert Jahren hatten europäische Siedler zum ersten Mal den Kontinent durchquert, wenig später gefolgt von den großen Wanderungsbewegungen nach Westen auf der Suche nach Land und Gold. Nun war eine weitere gewaltige Flucht nach Westen im Gange.
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