Ich äugte aus dem Fenster. Wir standen auf dem Twerskoi-Boulevard, vor dem Stadtpolizeipräsidium. Sachte und in großen Flocken fiel der Schnee. Barbolin und die bibbernde halbnackte Frau standen schon draußen auf der Straße. Sherbunow drückte mir die Hand und stieg aus. Das Auto fuhr wieder los.
Mit einemmal fühlte ich heftig, wie einsam und schutzlos ich war auf dieser gefrorenen Welt, deren Bewohner es darauf abgesehen hatten, mich in die Gorochowaja zu bringen oder mir die Seele mit Hexensprüchen zu verdunkeln. Gleich morgen früh, dachte ich, werd ich mir eine Kugel in die Stirn jagen. Das letzte, was ich vor mir sah, ehe ich endgültig in die schwarze Grube der Besinnungslosigkeit hinabfuhr, war das schneebedeckte Gitter der Straßenbegrenzung – während das Auto wendete, erschien es ganz dicht vor dem Fenster.
Genaugenommen war das Gitter nicht vor, sondern im Fenster, noch genauer: in der kleinen Luke, durch die ein schmales Bündel Sonnenstrahlen mir gerade ins Gesicht fiel. Ich wollte beiseite rücken, was mir aber nicht gelang – bei dem Versuch, mich vom Fußboden abzustemmen, um mich vom Bauch auf den Rücken zu drehen, stellte sich heraus, daß meine Arme gefesselt waren. Ich steckte in etwas, das wie ein Leichengewand aussah und dessen lange Ärmel auf dem Rücken zusammenhingen – wenn ich mich nicht irre, nennt man das eine Zwangsjacke.
Mir fiel es nicht sonderlich schwer zu erraten, was geschehen war – etwas an meinem Verhalten hatte anscheinend den Argwohn der Matrosen geweckt, und nachdem ich im Auto eingeschlafen war, hatten sie mich zur Tscheka gefahren. Ich krümmte meinen Körper so, daß ich auf die Knie und sodann an der Wand zu sitzen kam. Meine Zelle schaute recht merkwürdig aus. Weit oben unter der Decke war das vergitterte Fensterchen, durch das der Sonnenstrahl hereinfiel, welcher mich geweckt hatte. Wände, Tür, Fußboden und Decke waren mit einer dicken, weichen Polsterung versehen, so daß ein romantischer Selbstmord im Geiste Dumas' (»noch einen Schritt, Mylord, und ich schlage mir den Schädel an der Wand ein«) nicht in Frage kam. Offenbar hatten die Tschekisten solcherart Zellen für besonders respektable Gäste hergerichtet – ein Gedanke, der mir, wie ich zugeben muß, einen kurzen Moment schmeichelte.
Es verstrichen einige Minuten, in denen ich an die Wand starrte und mir die erschreckenden Details des vorangegangenen Tages ins Gedächtnis zurückholte, dann wurde die Tür aufgerissen.
Sherbunow und Barbolin standen auf der Schwelle – doch mein Gott, in welchem Aufzug! Sie trugen weiße Kittel, bei Barbolin schaute sogar ein echtes Stethoskop aus der Tasche hervor. Das war nun weit mehr, als ich fassen konnte; meiner Brust entrang sich ein nervöses Gelächter, woraus die vom Kokain verbrannte Kehle eine Art Röchelhusten machte. Barbolin, der näher zu mir stand, drehte sich nach Sherbunow um und sagte etwas, was ich nicht verstand. Schnell hörte ich zu lachen auf – irgend etwas verriet mir, daß sie gleich zuschlagen würden.
Den Tod fürchtete ich am allerwenigsten, das sagte ich wohl schon. Zu sterben war in meiner Situation ebenso naheliegend und vernünftig, wie man ein Theater verläßt, das – noch dazu während einer schlechten Vorstellung – in Flammen aufgegangen ist. Was ich jedoch auf gar keinen Fall wollte, war, daß ich auf meinen letzten Wegen von den Ohrfeigen und Fußtritten wildfremder Leute belästigt sein würde – dafür war ich wohl im Tiefsten meiner Seele nicht Christ genug.
»Meine Herren«, sagte ich, »ich denke, ihr wißt, daß man auch euch demnächst totschlagen wird. So bitte ich euch – aus Ehrfurcht vor dem Tod, wenn nicht vor meinem, dann vor dem eigenen: Erledigt es rasch und ohne Umschweife. Ich habe euch sowieso nichts mitzuteilen. Ich bin, müßt ihr wissen, eine Privatperson, und …«
»Was ist denn das nun wieder?« unterbrach mich Sherbunow grinsend. »Da hat mir dein Auftritt gestern aber besser gefallen. Diese hübschen Verse! Weißt du das wenigstens noch?«
Seine Art zu sprechen hatte etwas unbestimmbar Merkwürdiges an sich, nicht passend zur Situation, und ich vermutete, daß er sich schon zu früher Stunde seinen baltischen Tee genehmigt hatte.
»Mein Gedächtnis ist vorzüglich«, antwortete ich und sah ihm direkt in die Augen.
Sein Blick war unerschütterlich leer.
»Was redest du überhaupt mit diesem Blödmann«, krächzte Barbolin mit hoher Stimme. »Laß den Professor damit klarkommen, der kriegt es bezahlt.«
»Also los«, zog auch Sherbunow einen Schlußstrich, trat auf mich zu und nahm mich beim Arm.
»Könnt ihr mir nicht die Hände losbinden?« fragte ich. »Ihr seid doch zu zweit.«
»Ach so?« fragte Sherbunow. »Damit du einem an die Gurgel gehst?«
Von diesen Worten schwankte ich wie von einem Schlag. Sie wußten alles. Die unerträgliche Schwere, mit der Sherbunows Frage über mich kam, konnte ich beinahe physisch spüren.
Barbolin packte meinen anderen Arm; mühelos stellten sie mich auf die Füße und schleppten mich hinaus auf einen leeren, halbdunklen Gang, wo es tatsächlich irgendwie medizinisch roch – vielleicht nach Blut. Ich leistete keinen Widerstand. Nach einem ganzen Stück Weg stießen sie mich in ein geräumiges Zimmer, plazierten mich auf einen Schemel, der in der Mitte stand, und gingen wieder.
Mir gegenüber stand ein großer Schreibtisch, auf dem sich die Kanzleiordner türmten. Ein intelligent ausschauender Herr im gleichen weißen Kittel wie Sherbunow und Barbolin saß dahinter. Er preßte sich mit der Schulter den schwarzen Hörer des Telefonapparates ans Ohr und schien aufmerksam zu lauschen; seine Hände wälzten derweil mechanisch irgendwelche Papiere. Von Zeit zu Zeit nickte er, sprach aber kein einziges Wort. Mir schenkte er nicht die geringste Beachtung. Noch ein Weißkittel in grünen Hosen mit roter Biese saß auf einem Stuhl an der Wand zwischen den beiden hohen Fenstern, vor die staubige Vorhänge gezogen waren.
Etwas an der Einrichtung dieses Zimmers ließ mich an den Sitz des Generalstabs denken, wo ich anno sechzehn in dem Bemühen, mir meine Sporen auf dem Felde der patriotischen Journalistik zu verdienen, öfters zu tun gehabt hatte. Allerdings gab es hier, direkt über dem Kopf des bekittelten Herrn, wo man das Bildnis des Zaren hätte vermuten dürfen (zumindest aber den lieben Karl, der – o argloser Zungenbrecher aus Kindertagen! – inzwischen in halb Europa die Korallen gekrallt hatte), etwas derart Gräßliches zu sehen, daß ich mir instinktiv auf die Lippe biß.
Es handelte sich um ein großes, auf Karton kaschiertes, in den Farben der russischen Fahne gehaltenes Plakat. Darauf ein blauer Mann mit gewöhnlichen russischen Gesichtszügen, aufgeschnittener Brust und abgesägter Schädeldecke, unter der das Gehirn offen und blutig zutage lag. Ungeachtet dessen, daß seine Eingeweide aus dem Leib gezogen und lateinisch durchnumeriert waren, blickten die Augen des Mannes stoisch, und ein kleines, stilles Lächeln stand ihm auf den Lippen – was eine Täuschung sein konnte, verursacht durch den breiten Schnitt auf der Wange, der einen Teil des Kiefers und der Zähne freilegte, letztere so tadellos weiß wie auf einer deutschen Zahnpulverreklame.
»Also dann«, brummelte der Herr im Kittel und warf den Hörer auf die Gabel.
»Entschuldigen Sie«, sagte ich, während ich meinen Blick vom Plakat riß und ihm zuwandte.
»Keine Ursache«, sagte er. »Da ich schon meine Gesprächserfahrungen mit Ihnen habe, stelle ich mich am besten gleich noch einmal vor: Professor Kanaschnikow, Timur Timurowitsch.«
»Pjotr Pustota. Leider sehe ich mich außerstande, Ihnen die Hand zu geben.«
»Muß auch nicht sein. Ach Pjotr, ach Pjotr. Wo sind wir da bloß hineingeraten.«
Seine Augen ruhten freundlich und sogar ein wenig mitfühlend auf mir; das keilförmige Kinnbärtchen signalisierte den untadeligen Staatsdiener alter Schule, doch soviel wußte ich von den Winkelzügen der Tscheka, daß mein Mißtrauen sich nicht erschüttern ließ.
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