Er legte den Inhalator neben sich auf den Tisch und versuchte, sich zu entspannen.
Das Serum war Whistlers kostbarstes Vermächtnis, das er ihm hinterlassen hatte. Soweit Blade das verstand, enthielt es einen Ersatzstoff für menschliches Hämoglobin, kombiniert mit einer starken antiviralen Formel, die das Vampirvirus in ihm vorübergehend außer Gefecht setzte und es daran hinderte, sich zu vermehren. Denn nur dann, wenn das Virus in einem menschlichen Wirt eine Vermehrung anstrebte, musste es genährt werden. Das zwang den Wirt dazu, wieder und wieder zu töten, bis das Virus genug frische Nahrung zur Verfügung hatte, um sich fortzupflanzen.
Blade konnte sich glücklich schätzen. Nach vielen Tests war Whistler zu der Erkenntnis gelangt, dass sich in seinem Körper eine stabile Version des Virus befand, das mit seinem Körper arbeitete, nicht gegen ihn. Blade hatte Whistler einmal nach dem Grund gefragt. Doch als Antwort hatte er von dem alten Mann eine so langatmige wissenschaftliche Erklärung bekommen, dass er sich eine sehr große geistige Notiz gemacht hatte, niemals wieder dieses Thema anzuschneiden.
Soweit Blade das verstand, wurde man nicht zwangsläufig zum Vampir, wenn man von einem gebissen wurde. Whistler hatte ihm das sehr deutlich gemacht. Seine Tests zeigten, dass dieses Virus in einem gesunden menschlichen Körper ein extremer Fremdkörper war, der vom Immunsystem entdeckt und zerstört wurde.
Whistler vermutete, eine Verwandlung vom Menschen zum Vampir könne sich nur dann ereignen, wenn infiziertes Blut in den Körper des Opfers gelangte, so dass sich die infizierten roten Blutkörperchen des Vampirs an die seines Wirts heften konnten. Durch diesen Prozess würde es dem Virus möglich sein, die Immunabwehr des Wirts zu umgehen und sich von den „gespendeten“ Zellen des Vampirs auf die des Opfers zu übertragen. Wenn das erst einmal geschehen war, stand das körpereigene Immunsystem dieser neuen Situation machtlos gegenüber.
Blade sah vor seinem geistigen Auge wieder die zuckenden roten Blutkörperchen, die unter dem Mikroskop mit unglaublicher Geschwindigkeit mutierten und sich dann teilten. Whistler hatte ihm diesen Prozess während der Suche nach einem Medikament viele Male gezeigt, und jedes Mal hatte Blade von dem Anblick eine Gänsehaut bekommen. Wenn er das Virus so extrem vergrößert sah, hätte er am liebsten das Mikroskop zu Boden geworfen und darauf herumgetrampelt, bis diese verdammten Viren alle tot waren.
Von Whistler wusste er auch, dass es sich um ein sehr kluges Virus handelte. Wenn es erst einmal übertragen worden war, veränderte es die DNS des Wirtes so lange, bis dessen Gene nicht mehr wiederzuerkennen waren. Der Wirtskörper „starb“ dann – üblicherweise an einem Schock, der den ganzen Organismus erfasste, oder an Blutverlust –, und das Gehirn verfiel in eine Art Winterschlaf. Gleichzeitig breitete sich das Virus so weit aus, bis es den Körper neu starten konnte. Das Gehirn erwachte dann aus seiner Starre, und der übernommene Körper „lebte“ wieder – als eine Maschine, der es nur daran gelegen war, das Virus weiter zu verbreiten.
Normalerweise war dieser Prozess nach nur zwei Stunden abgeschlossen.
Blade zog die Stirn in die Falten und sah auf seine Arme und Beine. Der Dämon steckte in jeder einzelnen Zelle, nicht wahr? Es musste so sein, um den Körper des Vampirs bewegen zu können. Der Dämon hatte die Gewalt über Muskeln, Blut und Knochen, und er saß so prahlerisch da wie ein verwöhntes Kind, während die Seele allmählich verrottete, da sie sich nicht zur Wehr setzen konnte. Das Serum und der Knoblauch trieben es für eine Weile zurück, doch es kam immer wieder und schwärmte wie eine schwarze Woge aus Kakerlaken in das Haus eines toten Mannes.
Blade hatte in dieser Hinsicht wirklich Glück gehabt. Obwohl das Virus in ihm lebte und atmete, hatte er seine Menschlichkeit und seinen freien Willen bewahren können. Die meisten anderen bekamen diese Chance nicht. Blade wusste, dass die meisten frisch verwandelten Vampire kaum mehr als Herdentiere waren, die nur von ihrem Hunger angetrieben wurden.
Sie rotteten sich im Untergrund in kleinen Gangs zusammen und verbrachten die ersten Jahre ihres neuen „Lebens“ damit, zu essen, zu kämpfen und mit allem Sex zu haben, was sich bewegte – oder nicht bewegte, was häufiger der Fall war. Sie waren schlampig und undiszipliniert, und ihre draufgängerische Art machte es recht leicht, sie zu töten. Im Laufe der Jahre hatte Blade Tausende von ihnen umgebracht.
Es waren die Alten, die, die reinen Blutes waren, die am schwersten zu töten waren. Blade spürte eine Gänsehaut, als er nur an die Alten dachte. Gerüchten zufolge stammten sie direkt von Dracula ab, wurden als Vampire geboren und waren ihrerseits in der Lage, selbst Kinder zu zeugen und auszutragen. Moderne oder „bekehrte“ Vampire waren üblicherweise steril und verließen sich ausschließlich auf die Kraft des Virusderivats, um sich fortzupflanzen.
Blade wusste, dass diejenigen, die von reinem Blut waren, einen großen Vorteil besaßen: Sie konnten sich im Sonnenlicht aufhalten. Sie konnten am Tag das Haus verlassen, solange sie daran dachten, eine Sonnenschutzcreme aufzutragen, die Oktylsalizylat und gemahlenes Bleiweiß enthielt – ein Trick, den sie sich bei der elisabethanischen Aristokratie abgesehen hatten. Es gab bereits Berichte darüber, dass es unter den Modernen den Trend gab, diese längst vergessene Fähigkeit zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. Laut Insiderinformationen fasteten diese Vampire eine Woche lang, dann zogen sie los und nahmen einen Alten gefangen, um ihn zu töten und sein Blut zu trinken. Das Blut „reiner“ Vampire erlaubte es ihnen, sich einen Tag lang im Schein der Sonne zu bewegen, vorausgesetzt, sie trafen die gleichen Vorkehrungen wie die Alten.
Blade presste die Kiefer aufeinander, während Zorn in ihm aufstieg. Deacon Frost, der Vampir, der seine Mutter angegriffen und getötet hatte, sollte angeblich diese Methode häufig angewandt haben, um am Tag nach draußen gehen zu können. Als er und Blade sich das erste Mal begegnet waren, hatte Frost diese weiße Sonnencreme auf seine Haut aufgetragen und damit seinen Verdacht bestätigt.
Whistler hatte eine Theorie über Frost aufgestellt, die einen direkten Zusammenhang zu Blades Hybrid-Eigenschaften herstellte. Er glaubte, die große Menge Blut der Alten, die Frost über die Jahre konsumiert hatte, könnte zu einer Mutation des heutigen Vampirvirus in seinem Körper geführt haben, so dass es zu einer früheren Entwicklungsstufe zurückgekehrt war. Whistler war sicher, dass das Virus durch diesen Prozess in der Lage gewesen war, seine Mutter und auch ihn zu infizieren. Eine winzige Menge von Frosts Blut oder Zellmaterie war in das Blut seiner Mutter gelangt – vermutlich über die Bisswunden – und dann auf ihn übertragen worden.
Nach dieser Hypothese musste es zu dem extrem seltenen Fall gekommen sein, dass das Vampirgen von Blades Genstruktur absorbiert worden war, anstatt sie komplett umzuschreiben. Diese wacklige Koexistenz machte Blade zu dem, was er war – zu einem Hybriden, der weder Mensch noch Vampir war.
Im Lauf der Jahre hatte Blade dafür gesorgt, dass jeder Vampir, der von den Umständen seiner wundersamen Geburt erfahren hatte, umgehend aufgegriffen und getötet wurde. Es gab einen guten Grund dafür. Die meisten Vampire wussten von ihm. Manche hielten ihn nur für einen Mythos, aber es gab viele, die die exakten Bedingungen seiner Geburt nachzustellen versuchten, wenngleich meist auch mit tödlichen Folgen. Nach allem, was Blade aus den Vampiren hatte herausprügeln können, ehe er sie tötete, endeten diese Experimente meist in einem von zwei gängigen Szenarien. Entweder war es ein völliger Reinfall, und die Mutter versuchte, das menschliche Baby gleich nach der Geburt zu verzehren. Oder das Gen zeigte im Ungeborenen sofort Wirkung, woraufhin das Kind zum Vampir wurde und anfing, die Mutter von innen heraus aufzufressen, was besonders blutige Folgen nach sich zog.
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