Etwas weiter rechts tauchte das Schiffswrack vor ihnen auf. Taince flog eine flache Kurve nach Steuerbord und richtete den Kutter wieder gerade.
Sal schaute seitlich auf die Wüste hinab, die siebzig Meter unter ihnen vorbeiraste. »Mann«, sagte er. »Der ist ja noch schneller als der Flieger, den ich mir damals von Dad geliehen hatte.«
»Es ist eins von deinen eigenen Schiffen, Sal«, sagte sie.
»Dieses kleine Ding?«, fragte er lachend. »Ich wusste gar nicht, dass wir solche Winzlinge bauen.«
»Es ist schon alt.«
»Aha. Noch aus Dads Zeit. Mit den großen Kähnen verdient man mehr.«
Sie rasten an dem schwarzen Koloss vorüber. Die frei liegenden Rippen ragten drohend in den Himmel.
»Huhu!«, rief Sal, als die schwarze Wand zwanzig Meter vor ihnen vorbeiglitt.
Taince zog die Maschine hoch, flog einen Looping, stellte sie wieder gerade und ging noch näher an das Wrack des Alien-Schiffs heran.
»Hoho!«, rief Sal, als er sah, wie nahe sie der schwarzen Wand diesmal kamen. Taince flog einen vertikalen Kreis, bis sie kopfstanden. »Scheiiiße! Mann! Taince! Ja-ha!«
Sie war bis zum Schluss nicht sicher gewesen, ob sie es wirklich tun würde. Sie wusste schließlich nicht mit letzter Gewissheit, was damals geschehen war. Sie hatte nur einen Verdacht. Es war trotz allem möglich, dass sie sich einfach getäuscht hatte. Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand das Gesetz selbst in die Hand genommen hätte und hinterher von den Fakten unbarmherzig widerlegt worden wäre. verdammt, das war doch Sinn und Zweck der Justiz, deshalb hatte man Gesetze und alles, was dazugehörte, es war eines der Dinge, die eine Gesellschaft zu einer Gesellschaft machten.
Dennoch. Sie wusste es. Sie war ganz sicher. Seine Zeit war abgelaufen. Selbst wenn sie sich irrte, Sal hätte sein Leben gelebt. Es war nicht so, als würde sie ein Kind töten oder eine junge Frau, die noch alles vor sich hatte. Es war und blieb Mord, es war ein Verbrechen, aber alles hatte seine Graustufen, sogar die Hölle hatte verschiedene Kreise. Und – ob Recht oder Unrecht – sie zumindest würde es nie erfahren.
Denn auch ihre Zeit war abgelaufen. Das wusste sie.
Sie hatte wirklich geglaubt, dass ihr die Tränen kommen würden, aber ihre Augen blieben trocken. Seltsam, dass man auch nach so langer Zeit, so kurz vor dem Ende noch immer nicht wusste, wie man in solchen Extremsituationen reagierte.
Was blieb noch zu tun? Sie hatte überlegt, es ihm zu sagen, ihn mit seiner Tat zu konfrontieren, alles noch einmal auf den Tisch zu bringen, zu hören, wie er tobte, um Gnade flehte oder sie anschrie. Sie hatte die Szene oft und oft durchgespielt, hatte sie im Lauf der Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte unzählige Male vor sich ablaufen lassen. Sie hatte ihre und seine Rolle übernommen und sich genauestens zurechtgelegt, was er sagen könnte, wie er versuchen würde, sein Verhalten zu erklären, wie er unterstellen würde, sie sei verrückt oder hätte sich geirrt.
Und nun hatte sie einfach keine Lust mehr. Sie hatte schon alles gehört. Es gab nichts mehr zu sagen.
Sie verurteilte einen Menschen auf Grund eines Indizienbeweises, auf Grund eines Verdachtes zum Tode. Sie müsste ihm die Chance geben, sich zu rechtfertigen. Sie müsste ihn zumindest wissen lassen, was sie mit ihm vorhatte.
Aber wozu?
Im kalten Licht der Sterne rasten sie auf die Wüste, auf das riesige schwarze, so massive Schiffswrack zu.
»Verdammt, tain …!«
Sal hätte versuchen können, den Schleudersitz auszulösen – das einzige System, das sie mit ihrer Steuerung nicht deaktivieren konnte – deshalb war sie das letzte Stück kopfüber geflogen.
Am Ende genügte ein einziges kurzes Zucken mit den Handgelenken.
Dann krachte der Kutter etwa mit halber Schallgeschwindigkeit nur zehn Meter über dem Wüstenboden in die Flanke des Schiffes.
In den höheren Breiten der Nördlichen Tropischen Hochebene auf dem Planetenmond ’glantine im Ulubis-System trifft man einen Vogel, der wegen seines Rufs der ›He-Mann-He‹ genannt wird. Der Vogel ist ein Wanderer, ein Zugvogel; das heißt, er lebt nicht ständig in einer Region, sondern zieht von Ort zu Ort. Zu Frühlingsbeginn zieht der He-Mann-He durch unsere Breiten nach Norden.
Es war ein kühler Tag, kurz vor Mittag. Nasqueron war halb voll und warf seinen rötlich braunen Schein über die weichen Schatten. Früher wären auf der einen oder anderen Seite des Gasriesen große Spiegel zu sehen gewesen, die das Sonnenlicht zu uns lenkten, auch wenn Nasqueron den Himmel fast ganz ausfüllte. Aber im Krieg wurden viele dieser Anlagen zerstört, und so ist es auf unserem kleinen Planetenmond im wahrsten Sinne des Wortes dunkler als früher, und er ist, bis neue Spiegel installiert werden können, in seinen Urzustand zurückgefallen.
Ich arbeitete auf der ehemaligen Parkweide und steckte tief in einem lästigen Chuvle-Gestrüpp, das einen – inzwischen – fast schon verschwundenen Teich überwuchert hatte. Gerade als ich mir überlegte, was ich mit den Sträuchern und dem Teich anstellen wollte (denn beide sind auf ihre Weise reizvoll), vernahm ich den unverwechselbaren Ruf des oben erwähnten Vogels. Ich hielt inne und lauschte.
»He-Mann-he-Mann-he-Mann-he!«, sang der Vogel. Ich drehte mich langsam um und suchte die höheren Äste der Bäume nach ihm ab.
Während ich mich noch umsah – finden sollte ich den Vogel nicht –, bemerkte ich auf dem Hauptpfad eine Gestalt auf dem Weg zum Bach und der Grenzmauer, die am Hang, etwas unterhalb der Ruine des alten Rehliden-Tempels endet.
Ich sah genauer hin, fokussierte und bemühte mich, die Büsche und Sträucher dazwischen auszufiltern. Die Gestalt bewegte sich genau wie Seher Taak, der schon so lange nicht mehr unter uns weilte. (›Unter uns‹! – immer wieder der gleiche schmerzliche Fehler. Es gab kein ›uns‹ mehr, nur ein paar kärgliche Überreste in einem verlassenen Haus.) Die Gestalt verschwand hinter einem dichteren Gebüsch, würde aber bald wieder auftauchen, wenn sie dem Pfad weiter folgte.
Ich überlegte. Rückblickend war die Person auf dem Pfad vielleicht doch um einiges älter als der Mann, den ich einst als den ›jungen Herrn‹ betrachtet hatte. Sie ging leicht vornübergebeugt, was Seher Taak nie getan hatte, und war vielleicht etwas zu dünn, außerdem bewegte sie sich so vorsichtig, als wäre sie verletzt. Jedenfalls schien es mir so, ich würde allerdings nicht wagen, mich hier als Experten zu bezeichnen. Ich bin ein bescheidener Gärtner, mehr nicht. Meinetwegen Obergärtner, aber dennoch bescheiden. Hoffe ich.
Die Gestalt tauchte tatsächlich wieder auf, aber nicht da, wo ich sie erwartet hatte. Wer immer sie sein mochte, sie hatte einen Seitenweg genommen und kam nun geradewegs auf mich zu. Nun hob sie die Hand. Ich hob meine Kelle und winkte zurück. Es war Seher Taak! Oder – im Namen der Vernunft – jemand, der sich alle Mühe gab, wie eine deutlich gealterte Ausgabe von ihm zu erscheinen.
Ich kletterte aus dem Teich, schüttelte mir die Chuvle-Ranken von einigen Beinen, stapfte die Böschung hinauf und ging ihm entgegen.
»Junger Herr?«, sagte ich, ließ Kelle, Rechen und Spaten fallen und streifte Erde und Pflanzenteile von meinen Armen ab.
Der Mann strahlte über das ganze Gesicht. »Ach, du bist es, OG!« Er trug lange, weite Freizeitkleidung und sah gar nicht wie ein Seher aus.
»Sie sind es wirklich, Seher Taak! Wir fürchteten schon das Schlimmste! Oh! Wie schön, dass wenigstens Sie noch am Leben sind!«
Ich muss gestehen, dass mich meine Gefühle überwältigten. Ich klappte zusammen, ließ mich auf alle achte nieder und betrachtete unverwandt den Kies auf dem Weg.
Er ging vor mir in die Hocke. »Wir neigen dazu, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen, nicht wahr, OG?«
Читать дальше