Ihm blieb jetzt keine Zeit zur Besorgnis. Seine Aufmerksamkeit galt einzig der Karte auf seinem Helmdisplay, zwischendurch warf er immer wieder einen Blick auf das eigentliche Gebäude, in dem sie sich aufhielten. Alles war von Rauch und Staub durch die Sprengladungen verhangen. Er und die Soldaten, mit denen er unterwegs war, hatten gerade erst den nächsten Durchgang erreicht, als sie auch hier mit einem Sperrfeuer konfrontiert wurden. Drakon warf sich zu Boden und kochte vor Wut über diesen neuerlichen Aufenthalt, dann widmete er sich wieder dem Grundriss auf seinem Display und befahl gleich darauf: »Feuern Sie Verschleierungssalven und EMP-Ladungen auf diese Verteidiger ab. Gefechtsingenieurteam Sigma, sprengen Sie gleich um die Ecke ein Loch in den Boden.«
Die Verschleierungssalven hüllten den Abschnitt zwischen Drakon und den Vipern in einen dichten Nebel, der von Sensoren nicht durchdrungen werden konnte. Im nächsten Moment erzitterte das Gebäude, als die Gefechtsingenieure die Sprengung vornahmen. Drakon und seine Leute krochen zurück um die Ecke, während die Vipern weiter den nunmehr menschenleeren Korridor unter heftigen Beschuss nahmen. Dann sprangen er und die anderen durch das Loch im Boden hinunter auf die nächsttiefere Ebene.
Diese Etage kam ihm seltsam ruhig vor, obwohl die Schießereien in den anderen Abschnitten das Gebäude ständig erzittern ließen. Die Doktrin verlangte von Drakon, nun eine Pause einzulegen und zunächst die komplette Positionierung seiner Streitkräfte zu berücksichtigen, ehe er koordinierte Angriffe anordnete. Allerdings hatte er seine Soldaten so geschult, dass sie auch ohne detaillierte Befehlsvorgaben seinerseits ihre Arbeit erledigen konnten, auch wenn sich die Syndikatshierarchie gegen eine solche Vorgehensweise aussprach, da sie aus gutem Grund eigenständiges Denken fürchtete wie die Pest. Aber Drakons Herangehensweise machte sich nun bezahlt, da individuelle Züge und Trupps der angreifenden Streitmacht sich eigenständig auf jeder freien Route durch das Gebäude bewegten, wie Wasser, das ein nicht ausreichend geschütztes Gebiet überspült.
Die Schlangen schienen nur schwerfällig zu reagieren, so als warteten sie jeweils erst Befehle ab, ehe sie ihre Position veränderten. Solche Verzögerungen erwiesen sich oft als fatal, da Drakons Soldaten entsprechende Stellungen der Verteidiger in der Zwischenzeit einkreisen und auslöschen konnten.
Drakons Helmdisplay zuckte und rauschte, da nicht nur das Gebäude selbst, sondern auch diverse Störsender den Empfang beeinträchtigten. Dennoch waren inzwischen so viele seiner Leute ins Innere vorgedrungen, dass Drakon durch die Signale, die die Gefechtsrüstungen an jede andere Rüstung in Reichweite weiterleiteten, ein halbwegs brauchbares Bild der Ereignisse ringsum empfing. »Hier lang«, befahl er den Soldaten, mit denen er unterwegs war, und ging in südliche Richtung durch einen kurzen Korridor, während der Gefechtslärm wieder lauter und intensiver wurde. Die Angst war nur noch ein weit entfernter Begleiter, verdrängt von der Notwendigkeit, sich auf die Geschehnisse konzentrieren und zügig vorrücken zu müssen.
Ein plötzlicher Alarm überlagerte den dröhnenden Kampflärm. Drakon hielt inne und betrachtete das Symbol, das ihm verriet, dass die Nachricht nur von zwei Personen in diesem System kommen konnte. Er befahl seinen Soldaten stehen zu bleiben, dann nahm er den Ruf an.
Das Bild von CEO Hardrad war verschwommen und zerfiel in statische Pixel, ehe es teilweise wiederhergestellt wurde. »Drakon, brechen Sie sofort diesen Angriff ab, sonst zünde ich die nuklearen Sprengladungen unter jeder Großstadt auf diesem Planeten.«
»Sie haben die Codes nicht.«
»Doch, die habe ich.« Die Interferenzen machten es unmöglich, Hardrads Gesichtsausdruck zu deuten oder einen Eindruck von den Emotionen zu bekommen, die in der Stimme des anderen CEO mitschwangen. Allerdings ließ sich Hardrad auch sonst kaum Gefühlsregungen anmerken. »Iceni hat Sie im Austausch für begrenzte Immunität verraten. Ich habe die Codes, und ich werde eher diese Welt zerstören, bevor ich zulasse, dass Sie die rechtmäßige Autorität stürzen. Falls Sie jetzt noch Ihren Angriff abbrechen, können wir zu einer Einigung kommen. Iceni hat eine gewisse Immunität zugestanden bekommen, und das können Sie auch haben. Andernfalls werden Sie zusammen mit allen anderen sterben.«
Mitten in diesem Gefecht klang es einfach nur seltsam, Hardrad zu hören, wie der eine apokalyptische Drohung aussprach, als würde er lediglich auf ein nicht vollständig ausgefülltes Formular hinweisen. Es passte aber nur zu gut zu jener Kaltblütigkeit, für die der ISD berüchtigt war.
Hat er die Codes oder hat er sie nicht? Wurde ich von Iceni verraten, damit sie ihren eigenen Kopf retten konnte? Kann Hardrad seine Drohung sofort in die Tat umsetzen? Wie lange brauchen meine Truppen noch, um in das massiv befestigte Kommandozentrum vorzudringen und in Hardrads Büro zu gelangen?
Drakons Blick ruhte auf dem Display, das ihm anzeigte, wie seine Soldaten tiefer ins Gebäudeinnere vorrückten. Über das Komm-Band konnte er Befehle und die Jubelrufe der Soldaten hören, denen es endlich ermöglich wurde, gegen einen Feind vorzugehen, der noch verhasster war als die Allianz. Unwillkürlich fragte er sich, ob es ungeachtet der brutalen Disziplin innerhalb der Syndikat-Streitmächte überhaupt möglich war, seinen Truppen den Rückzug zu befehlen, oder ob sie den Angriff nicht in jedem Fall so lange fortsetzen würden, bis keine einzige Schlange mehr lebte.
Die andere Frage war, ob sie diesen Sieg lange würden genießen können oder ob eine nukleare Explosion sie jeden Augenblick mitsamt der ganzen Stadt in den Tod reißen würde.
Iceni stand wie erstarrt da, während sich ihre Gedanken überschlugen. Noch fünf Minuten, bis die Schlangen hier auf diesem Kreuzer vor ihr standen. Was, wenn sich bis dahin auf der Oberfläche noch immer nichts gerührt hatte? Konnte sie weiterhin darauf vertrauen, dass Drakon sich an den Plan hielt?
Sie rief Togo, wobei sich ihr Signal erst einmal seinen Weg um etliche Hindernisse herumbahnen musste, die im Komm-System installiert worden waren, sodass es minutenlang dauerte, ehe eine freie Bahn gefunden war. »Haben Sie etwas vom ISD gehört?«
Togo nickte. »Wir wurden angewiesen, alle Systeme zu stoppen und uns für eine Sicherheitsabtastung bereitzuhalten. Ich kann keine Mitteilungen mehr versenden.«
»Und die Lage in der Stadt?« Die Frage war zu direkt, zu offensichtlich, sodass die Schlangen mit der Nase darauf gestoßen wurden, dass sie irgendein Ereignis erwartet. Aber sie hatte keine Alternative.
»Alles ruhig.«
»Sie müssen für mich …« Iceni verstummte, als die Verbindung unterbrochen wurde. Der ISD musste auf die Unterhaltung aufmerksam geworden sein und hatte die Leitung gekappt, die von ihren eigenen Systemen ausfindig gemacht worden war.
»Drakon.« Akiri ließ den Namen wie einen Fluch klingen, seine Augen spiegelten wachsendes Unbehagen wider.
Dem Mann war die Unentschlossenheit anzumerken, er erinnerte an einen Satelliten, der auf seiner Flugbahn ins Trudeln geriet und womöglich jeden Moment ausbrach. »Bleiben Sie standhaft«, warnte sie ihn. »Sonst wird Ihr Name als Erstes fallen, wenn sie mich verhören.«
Akiri schaute zu dem einzelnen Leibwächter, der Iceni durch den Verbindungsschlauch gefolgt war und sich im Hintergrund hielt, aber seine Umgebung äußerst wachsam im Blick hatte. Akiri war intelligent genug, um einzusehen, dass er gegen den Mann keine Chancen hatte, und er besaß genug Erfahrung, um zu wissen, dass die Schlangen jeden auch nur halbwegs Verdächtigen einkassierten, wenn Iceni diesen Vorwurf aussprach. Also fuhr sich der Kreuzerkommandant nervös mit der Zunge über die Lippen, schließlich nickte er.
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