„Zwei unseres Volkes sind bei ihnen“, wiederholte die Frau. Er erkannte, daß es mehr als nur eine simple, ausgesprochene Tatsache war; ihre lochtet: hatte der Premierminister gesagt. Sie hob langsam eine Hand und strich sich über den Nacken und ihr mattes Haar, womit sie, wie er erkannte, eine Geste der Bedrohung kaschierte. „Der Kapitän versprach uns den Wasserstoff, den wir zum Überleben benötigen, wenn sie ihr halfen, den Treibstoff für ihr eigenes Schiff zu bekommen… den Wasserstoff, den ihr mit uns nicht teilen wolltet — hätten wir ihn uns nicht gewaltsam geholt.“
Er wartete ab, antwortete aber nicht, denn ihre Worte hatten keine Anklage beinhaltet.
„Was würden Sie uns geben, wenn ich Ihnen helfe, das Schiff intakt in die Hand zu bekommen?“
Wieder war er überrascht. „Was können Sie tun, das zu garantieren?“
Ihre schmalen Hände überkreuzten sich vor der Brust, umklammerten ihre ebenso dünnen Hände in Ärmeln, die viel zu lang und zu zerlumpt waren. „Erlauben Sie mir, die Funkanlage wieder zu reparieren. Geben Sie Ersatzteile… wenn Sie welche haben.“ Sie blickte ihn mit harten, glänzenden Augen an. „Lassen Sie mich Kontakt mit dem Schiff aufnehmen, wenn es sich nähert. Ich werde ihnen versichern, daß sie gefahrlos kommen können. Dann können Sie sie leicht übernehmen.“
„Das könnten wir auch selbst tun.“
„Nein, können Sie nicht. Meine… unsere Leute auf dem außerirdischen Schiff kennen die Probleme unserer Funkanlage sehr gut — und außerdem meine Stimme. Durch die Stimme eines Fremden würden sie argwöhnisch werden… wie auch durch eine Funkstille.“
„Da haben Sie nicht unrecht.“ Raul nickte.
„Werden Sie uns den Wasserstoff lassen, wenn ich das tue?“ Dieses Mal funkelte sie ihn nicht zornig an.
„Wenn das Schiff entkommt, können sie mit dem Wasserstoff zurückkommen!“ platzte Wind Kitavu heraus. „Nimm uns nicht unsere einzige Chance…“
Sie drehte sich um, und ihr Gesicht brachte ihn zum Schweigen. Raul fragte sich, was es zeigen mochte. „Werden Sie es tun?“
Da er wußte, wie einfach es sein würde zu lügen, antwortete er: „Ich werde um die Erlaubnis bitten. Vielleicht bekomme ich sie, vielleicht auch nicht.“ Er wartete auf ihre Reaktion und wurde von einer Art Enttäuschung verwirrt, als hätte sie eine Lüge von ihm erwartet, die ihren Verrat entschuldigt hätte. Oder war da noch etwas anderes? Er dachte an Wadie Abdhiamal.
„Aber was wird mit der Besatzung? Wenn Sie… das Schiff intakt in die Hand bekommen?“
„Wenn ich sie lebend bekomme?“ Ihre Tochter … also hatte er doch endlich eine zufriedenstellende Auskunft erhalten. „Sie liegt Ihnen also doch am Herzen?“
Flame Siva erstarrte, ihre Augen erinnerten an niedergebrannte Schlacke, ihre Stimme verlor ihre Stärke. „Ja… natürlich liegt sie mir am Herzen…“ Und dann, plötzlich wild und aufbrausend: „Sie liegen mir alle am Herzen! Sie versuchen uns zu retten!“ Sie biß sich auf die Lippen.
Raul wand sich unbehaglich. „Wenn sie keinen Widerstand leisten, werde ich Ihre Tochter und den anderen freilassen — wenn Ihnen daran soviel gelegen ist.“ Das ist Strafe genug. „Und was den Rest angeht — an Bord ist ein Verräter aus dem Demarchy, der ihnen die Informationen zum Überfall auf unsere Destille gab. Ich glaube nicht, daß er eine große Chance hat.“ Aber ich will immer noch eine Erklärung. „Und was die Außenweltler angeht, die übriggeblieben sind… die werden auf die eine oder andere Weise mit unserer Flotte zusammenarbeiten müssen.“
„Sie werden sie niemals gehen lassen.“ Es war keine Frage.
„Ich glaube weder unsere Flotte noch die Besatzung wird jemals in einer Position sein, darüber verhandeln zu können.“
Sie nickte oder schüttelte den Kopf, eine seltsame Bewegung. „Wir tun hier, was wir können… und wir nehmen, was wir bekommen. Wir sind für unsere Taten selbst verantwortlich.“ Wieder der Trotz, der Abscheu, das lohende Feuer… sie wandte sich an die geisterhafte Inkarnation des Rates von Lansing. „Wir nehmen die Konsequenzen auf uns.“
„Sandoval.“ Raul winkte ihn zu sich. „Bringen Sie sie zurück und lassen Sie sie am Funkgerät arbeiten. Und was immer auch geschieht, lassen Sie sie kein Wort — ich wiederhole, kein Wort — ohne meine Erlaubnis übermitteln.“
„Ja, Sir.“ Sandoval salutierte nachlässig und brachte sie weg. Sie wurde von seinen Männern flankiert, hatte aber den Kopf hoch erhoben.
Raul kommandierte zwei weitere Männer zum Bewachen der Luftschleuse ab, einen behielt er bei sich. Der Premierminister und seine Abgeordneten warteten, sich bewußt — wie auch er sich bewußt war —, daß es ihnen an der nötigen Konsequenz und Kontrolle fehlte.
Der Premierminister wandte sich an Wind Kitavu, seine Robe öffnete sich wie eine Blüte. „Du. Was machst du hier unten?“
„Sie wissen, was ich getan habe!“ Wind Kitavu sprang weg von der Wand. „Das Kind. Ihr alle wißt es. Tut nicht so, als ob es anders wäre!“
Der Premierminister wich zurück, eine würdelose Bewegung. „Dann erwarte nichts weiter von uns! Du wußtest, was geschehen würde. Akzeptiere deine eigenen Fehler… geh wieder an deine Arbeit.“ Er streckte einen Arm aus.
Raul sah Schmutz, der verkrustet den ganzen Unterarm bedeckte, als der Ärmel zurückglitt. Er hörte einen seiner Männer, der es ebenfalls gesehen hatte, laut lachen, doch dieses Mal unternahm er keinen Versuch, ihn zum Schweigen zu bringen. Er wandte sich ab. „Wind Kitavu.“
Wind Kitavu verharrte auf halbem Weg zur Tür.
„Gehst du zur Oberfläche?“
Ein ausdrucksloses Nicken. „Muß es meiner Frau erzählen. Von dem Baby.“
„Dann werden wir dir folgen. Ich möchte diese verdammten Gärten sehen.“
„Verdammten Gärten…“ wiederholte eine andere Stimme. Wind Kitavu ging zum Ausgang. Raul wandte sich nicht noch einmal dem Premierminister von ganz Himmels Gürtel zu.
Raul folgte seinem wortkargen Führer durch viele Tunnels, dieses Mal in eine Aufwärtsrichtung. Schließlich wurde ein kleines Lichtfleckchen vor ihm immer heller und größer — eine Helligkeit, die so intensiv war, daß sie nur von der Sonne stammen konnte. Dieses Mal begegnete er einem Tag, der für die menschliche Rasse seit ihrem Bestehen natürlich war, für ihn jedoch vollkommen neu und unerwartet. Frei, ungehindert, konnte er ins Tageslicht hinaustreten.
Und dann blieb er stehen und bestaunte die grüne Vegetation, die ihn umgab, als er den Hügel hinabblickte. Plötzlich verfolgte ihn eine lebende Erinnerung an die hydroponischen Treibhäuser der Harmonie, an Hitze und Feuchtigkeit, die den Arbeitern den Schweiß aus allen Poren trieb. Sein Besatzungsmitglied trat wieder in den Tunnel zurück, und er beorderte ihn scharf an seine Seite. In periodischen Abständen wurde der Dienst in den hydroponischen Anlagen von allen Bürgern verlangt. Auch er hatte diesen Dienst in seiner Jugendzeit abgeleistet, aber heute, als Hand der Harmonie, wurde er ihm selbstverständlich nicht mehr auferlegt. Vielleicht hat ein hoher Rang doch seine Privilegien.
Doch die Handvoll von zerlumpten Arbeitern sah nicht unbehaglicher aus als die bei der Schleuse. Durch seinen Anzug geschützt, würde er niemals die volle Realität der Gärten erfahren können, nicht erfahren, wie das Leben auf der Alten Erde gewesen war. Zwei verschiedene Zukünfte begegneten ihm hier, im Gleichgewicht von Leben und Tod — und er würde, wie man es auch betrachtete, diese Gelegenheit nie mehr haben…
Er blickte zurück zu dem Meer abgestumpfter, schmutziger Gesichter, die genetische Mängel wie ein Brandzeichen kenntlich machten. Hoch über ihnen, über allem, beschattet und halb verborgen von den Bäumen, war eine transparente Hülle, die ebenfalls an manchen Stellen behelfsmäßig geflickt war. Einst mußte dort noch mehr gewesen sein — etwa ein Kraftfeld, um die Arbeiter vor der Sonnenstrahlung zu schützen… eine Schutzvorrichtung, die schon lange verloren war. In der Großen Harmonie wurde ein andauernder Dienst in den hydroponischen Anlagen als Strafe verhängt. Auch hier stellte er eine Strafe dar, wenn auch auf etwas andere Weise, eine Strafe für das Verbrechen, zum Opfer geworden zu sein… Er nahm seinen Helm nicht ab, da die Gefahr der Verseuchung ihm erneut bewußt geworden war, nicht die Verseuchung im Sinne einer Krankheit, sondern die weit gefährlichere Verseuchung des Verstandes. Schließlich war dies hier nicht der Ort, an dem er solche Gefühle haben wollte.
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