Er trat wieder ins Hotelzimmer. Greta hatte ihre Kritzelei beendet. Ihr Gesicht war blass und nachdenklich.
»Was hattest du?« fragte er.
»Das war eigenartig.« Sie legte den Bleistift weg. »Ich habe nachgedacht. Ich kann während des Sex über Neurologie nachdenken.«
»Tatsächlich?«
»Also, es ist eher so, als träumte ich davon. Du hast mich sehr erregt, und ich war kurz vorm Kommen… du weißt doch, wie wundervoll es sein kann, unmittelbar vor dem Höhepunkt zu verweilen? Und gleichzeitig habe ich intensiv über die Wellenausbreitung in den Zellen des Stütz- und Hüllgewebes nachgedacht. Dann begriff ich plötzlich, dass die übliche Story mit den Kalziumwellen in der Neuroglia falsch ist, und ich stand kurz davor, ganz kurz davor, und da blieb ich stecken. Ich blieb kurz davor stecken. Ich konnte nicht loslassen und konnte nicht richtig kommen, und das Lustgefühl wurde immer intensiver. Ein Tosen war in meinem Kopf, mir wäre beinahe schwarz vor Augen geworden. Und dann wurde es mir mit einem Mal klar. Ich musste aufspringen und es notieren.«
Er trat an den Tisch. »Und wie funktioniert’s?«
»Ach«, sie schob den Zettel weg, »das ist bloß so eine Idee. Ich meine, jetzt, da ich es niedergeschrieben habe, erscheint es mir unmöglich, dass sich ein neurogliales Synzytium dergestalt verhält. Das ist ein kluger Gedanke, aber er stimmt nicht mit den Tracer-Untersuchungen überein.« Sie seufzte. »Es hat sich so gut angefühlt. Als es passierte. Mein Gott, war das gut.«
»Das wirst du nicht jedesmal erleben.«
»Nein. So viele gute Ideen habe ich nicht mehr.« Sie schaute hoch, die zerbissenen Lippen noch ganz geschwollen. »Denkst du dabei nicht auch an etwas anderes?«
»Doch, schon.«
»Und woran?«
Er zog sie ein wenig näher. »An andere Dinge, die ich mit dir anstellen könnte.«
Sie legten sich wieder ins Bett. Diesmal hatte sie einen Blackout. Er bemerkte nicht, wie sie das Bewusstsein verlor, denn ihr Körper bewegte sich noch immer rhythmisch, doch sie verdrehte die Augen. Als sie ihn ansprach, hatte er seinerseits einen Blackout.
»Bist du bei mir?« flüsterte sie blicklos.
»Ja, ich bin da«, keuchte er. Sie hatten sich miteinander vermischt, auf einer so tiefen, dem Bewusstsein unzugänglichen Ebene, dass sie kaum imstande waren, sich zu manifestieren. Aber sie hatten einen guten Moment gewählt, um die zentrale Bühne des Geistes in Beschlag zu nehmen. Ihre schwitzenden Leiber kamen zur Ruhe, verschmolzen miteinander in einem Zustand tiefer Entspannung. Auf einmal war alles ganz einfach, ein weites, mondbeschienenes Meer der Sexualität, das an eine ferne Küste schwappte. Sie atmeten im gleichen Rhythmus.
Als er erwachte, war es zehn Uhr morgens. Morgenlicht sickerte durch die Ritzen der Fensterläden und malte ein Streifenmuster an die Decke. Greta regte sich und gähnte, stupste mit dem Fuß gegen seinen Knöchel. »Es tut gut, hinterher ein Schläfchen zu machen.«
»Anscheinend wird es uns zur Gewohnheit, ohnmächtig zu werden.«
»Ich glaube, das Träumen tut uns gut.« Sie richtete sich auf. »Duschen…« Ihre Stimme wurde leiser, als sie davontappte. »Oh, es gibt hier ja sogar ein Bidet! Das ist toll.«
Er folgte ihr ins Bad. »Wir waschen uns. Wir ziehen uns an«, meinte er fröhlich. Der Sex lag jetzt hinter ihnen, sehnsüchtig erwartet, aber im Rückblick auch ein wenig belastend. Trotzdem fühlte er sich gut. Sie waren geläutert, die Spannung hatten sie sich ausgetrieben; jetzt hatten sie Spaß miteinander. »Wir setzen die Masken auf, wir gehen aus und trinken Kaffee. Ich fotografiere dich auf der Straße, das ist lustig.«
»Gute Idee.« Sie begutachtete im Spiegel ihre ruinierte Frisur und schnitt eine Grimasse. »Ein Martini zu viel…«
»Du siehst großartig aus. Ich fühle mich gut, ich bin ja so glücklich.«
»Ich auch.« Sie trat in die Dusche, das Wasser begann zu rauschen.
»Wir machen Urlaub«, sagte er versonnen. »Wir machen gemeinsam ein bisschen Urlaub, wir leben für den Augenblick, wir sind nicht anders als andere Menschen auch.«
Als sie angekleidet waren, traten sie auf den Balkon hinaus, wo sich um diese Zeit viele freundliche Fremde drängten. Als sich Greta blicken ließ, wurde sie von der Straße her sogleich mit lautem Grölen begrüßt.
Greta riss hinter ihrer Federmaske schockiert die Augen auf. »Du meine Güte«, sagte sie. »Ich habe immer gewusst, dass Männer nur das Eine wollen, aber dass sie es in aller Öffentlichkeit hinausbrüllen… Ich kann’s einfach nicht glauben.«
»Wenn du magst, zeig dich doch. Du bekommst Perlen dafür.«
Sie überlegte kurz. »Ich wäre dazu fähig, wenn du auf die Straße hinuntergehen und zu mir hochbrüllen würdest.«
»Das ist ein Wort. Warte, ich hole die Kamera.«
Sie lächelte durchtrieben. »Aber Sie müssen mir Perlen zuwerfen, Mister. Und sie müssen sehr hübsch sein.«
»Ich nehme die Herausforderung gerne an«, sagte Oscar.
Eine Kette mit grünen und goldenen Perlen flog zu Greta hoch. Sie versuchte, die Halskette aufzufangen, verfehlte sie jedoch. Auf der Straße hüpfte ein großer Mann mittleren Alters, mit Schnurrbart und Maske, auf und nieder und brüllte zu ihr hoch. Er schwenkte hektisch die Arme, als versuchte er, ein Flugzeug auf sich aufmerksam zu machen.
»Schau dir diesen Clown an«, meinte Oscar grinsend. »Der ist ganz aus dem Häuschen.«
Der Mann und seine lächelnde Begleiterin kämpften sich heldenhaft durchs Gewühl, bis sie unmittelbar unterhalb des Balkons eingekeilt waren.
»Dr. Penninger!« schrie der Mann. »Hey, zeigen Sie uns Ihr Gehirn!«
»Mist, jetzt hat er es verdorben«, sagte Oscar verärgert. »Das sind Paparazzi.«
»Hey, Oscar!« rief der Mann aufgekratzt. Er nahm die Maske ab. »Sieh mal, sieh mal!«
»Kennst du den?« fragte Greta.
»Nein…« Plötzlich machte Oscar große Augen. »Hey! Doch, den kenne ich! Yosh! Das ist Yosh Pelicanos.« Er beugte sich weit vor und rief in die Tiefe: »Yosh! Grüß dich!«
»Seht mal!« rief Yosh aufgeregt und deutete auf die maskierte und kostümierte Brünette an seiner Seite. »Das ist Sandra!«
»Was redet der da?« fragte Greta.
»Das ist seine Frau«, meinte Oscar erstaunt. »Das ist seine Frau Sandra.« Er legte die Hände trichterförmig um den Mund und schrie: »Sandra! Hallo! Schön, dich zu sehen!«
»Mir geht’s wieder besser!« rief Sandra. »Mir geht es sehr viel besser.«
»Das ist großartig!« erwiderte Oscar. »Das ist wunderbar! Kommt hoch, Yosh! Kommt hoch und trinkt einen Schluck mit uns!«
»Keine Zeit!« rief Yosh. Seine Frau wurde von den Passanten mitgerissen. Pelicanos ergriff ihre Hand und schirmte sie einen Moment ab. Sandra wirkte ein wenig unsicher im Gewühl, was in Anbetracht des neunjährigen Aufenthalts in einer psychiatrischen Klinik auch nicht weiter verwunderlich war.
»Wir müssen jetzt miteinander schlafen!« rief Sandra mit scheuem, aber strahlendem Lächeln.
»Gott segne Sie, Dr. Penninger!« brüllte Pelicanos, schwenkte die Maske und wich zurück. »Sie sind ein wahres Genie! Danke, dass es Sie gibt! Danke, dass Sie so sind, wie Sie sind!«
»Wer sind diese Leute?« fragte Greta. »Weshalb hast du sie eingeladen?«
»Das war mein Majordomus. Und seine Frau. Seine Frau war schizophren.«
»Das war seine Frau?« Greta stockte. »Also, dann hat sie bestimmt das NCR-40-Autoimmunsyndrom gehabt. Das spricht auf die Aufmerksamkeitstherapie mittlerweile recht gut an. Sie wird wieder vollständig gesund werden.«
»Dann wird er auch gesund werden.«
»Wenn er sich wieder beruhigt, geht es ihm bestimmt prima. Außerdem sieht er recht gut aus.«
»Ich hätte ihn beinahe nicht erkannt. Ich habe ihn noch nie so glücklich erlebt.« Oscar zögerte. »Du hast ihn glücklich gemacht.«
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