Er starrte einen langen Moment darauf und ein tiefer Schauder durchfuhr ihn.
Die ganze Zeit… hatte er einen Geist gejagt. War der Lichkönig überhaupt jemals hier gewesen? Wenn nicht, wer hatte dann Frostgram durch das Eis bewegt? Wer hatte verlangt, befreit zu werden? Hätte er, Arthas Menethil, derjenige sein sollen, der auf dem vereisten Thron eingeschlossen war?
War der Geist, den er gejagt hatte… er selbst gewesen?
Auf diese Fragen würde er nie eine Antwort bekommen. Doch eine Sache war ihm klar. Was Frostgram für ihn gewesen war, würde auch die Rüstung für ihn sein. Er legte die Finger um den stacheligen Helm und hob ihn langsam und ehrfürchtig an. Dann schloss er die Augen und setzte ihn auf den weißhaarigen Kopf.
Er war plötzlich wie elektrisiert. Sein Körper spannte sich an, als er die Essenz des Lichkönigs spürte, die in ihn eindrang. Sie durchstieß sein Herz, stoppte seinen Atem, vereiste seine Adern. Frostig und mächtig durchspülte sie ihn wie eine Flut. Seine Augen waren geschlossen, doch er sah so vieles – alles das, was Ner’zhul, der Orc-Schamane, gewusst hatte, alles, was er gesehen und erlebt hatte.
Einen Augenblick lang fürchtete Arthas, dass er davon überwältigt werden würde. Dass ihn am Ende der Lichkönig ausgetrickst hatte, damit er hierherkam. Damit er seine Essenz in einen neuen frischen Körper stecken konnte.
Er bereitete sich auf einen Kampf um die Kontrolle seines Körpers vor.
Doch es gab keinen Kampf. Nur ein Vermischen, ein Verschmelzen. Um ihn herum stürzte die Höhle weiter ein. Arthas bekam es kaum mit. Seine Augen bewegten sich hektisch hinter den geschlossenen Lidern.
Seine Lippen bewegten sich. Er sprach.
Sie sprachen.
»Nun… sind wir eins.«
Die blau weiße Welt verschwamm vor Arthas Sicht. Die kalten und reinen Farben veränderten sich, wurden zu den warmen Farbtönen von Wald, Feuer und Fackellicht. Er hatte getan, was er angekündigt hatte. Er hatte sich an sein ganzes Leben erinnert, an alles, was bereits lange vorbei war. Er war erneut den Weg gegangen, der ihn zum vereisten Thron geführt und in seinen tiefen träumenden Zustand versetzt hatte.
Doch der Traum, so schien es, war noch nicht vorbei. Wieder saß er am Kopfende eines langen, reich verzierten Tisches, der den größten Teil der eingebildeten Großen Halle einnahm. Und die beiden, die sosehr an seinem Traum interessiert waren, waren noch da und beobachteten ihn.
Der Orc zu seiner Linken, ältlich, doch immer noch stark, schaute ihn an und begann zu lächeln. Das Abbild des Totenschädels auf seinem Gesicht dehnte sich dabei. Und der Junge zu seiner Rechten – der abgemagerte, kränkliche Junge – wirkte noch mitgenommener als zu Beginn des Traums.
Der Junge leckte sich die aufgeplatzten bleichen Lippen und holte Atem, als wollte er etwas sagen. Doch es war der Orc, dessen Worte die Stille zuerst durchbrachen.
»Da ist noch so viel mehr«, versprach er.
Bilder überkamen Arthas, miteinander verwoben und verschachtelt, in denen sich Zukunft und Vergangenheit vermischten. Eine Armee von Menschen zu Pferde, die das Banner von Sturmwind tragen… und die gemeinsam mit der Horde kämpften, deren Krieger auf knurrenden Wölfen saßen. Sie waren Verbündete und griffen vereint die Geißel an.
Die Szene änderte sich. Nun attackierten sich Menschen und Orcs gegenseitig – und die Untoten, die eindeutig ihrem eigenen Willen gehorchten, standen Schulter an Schulter mit den Orcs, zusammen mit merkwürdig aussehenden bullenähnlichen Männern und Trollen.
War Quel’Thalas noch unbeschädigt? Nein… nein, da war die Narbe, die Arthas und seine Armee hinterlassen hatte. Doch die Stadt war neu errichtet worden…
Die Bilder drangen jetzt schneller in seinen Geist ein. Sie waren verwirrend, konfus. Es war unmöglich, die Vergangenheit von der Zukunft zu trennen. Ein weiteres Bild erschien, in dem ein Skelettdrache Vernichtung über eine Stadt brachte, die Arthas noch nie zuvor gesehen hatte – ein heißer, trockener Ort, bevölkert von Orcs. Und…
Tatsächlich, es war Sturmwind selbst, das nun von den untoten Drachen angegriffen wurde…
Es waren Neruber – nein, nein, keine Neruber, nicht Anub’araks Volk, sondern nur Vertreter derselben Rasse. Ein Wüstenvolk waren sie. Ihre Diener waren riesenhafte Wesen mit den Köpfen von Hunden, aus Obsidian gefertigte Golems, die durch die leuchtend gelben Städte zogen.
Ein Symbol erschien, das Arthas kannte – das L von Lordaeron auf einem Schwert, aber in Rot, nicht Blau. Das Symbol änderte sich, wurde zu einer roten Flamme auf weißem Hintergrund. Die Flamme schien zum Leben zu erwachen und hüllte den Hintergrund ein, brannte ihn weg und setzte silbernes Wasser frei, aus einem riesigen Reservoir… einem Ozean… Etwas trübte die Oberfläche des Ozeans. Die bisher ruhige See begann wild zu peitschen, brodelte wie in einem Sturm, obwohl der Tag klar war. Ein schreckliches Geräusch, das Arthas nur schwach als Gelächter erkannte, dröhnte in seinen Ohren. Dazu kam das Schreien einer Welt, die aus ihrem angestammten Platz gerissen und angehoben wurde, um schließlich das Tageslicht zu erreichen, das sie schon seit ungezählten Jahrhunderten nicht mehr gesehen hatte.
Grün – alles war grün, schattenhaft und albtraumartig. Groteske Bilder tanzten in Arthas’ Geist, nur um davonzuhuschen, bevor er sie fassen konnte. Es gab ein kurzes Aufleuchten, das sofort wieder verschwand. Waren das Geweihe? Etwa ein Hirsch? Oder war es doch ein Mensch? Man konnte es nur schwer sagen. Die Gestalt strahlte Hoffnung aus, doch es gab Kräfte, die sie vernichten wollten…
Die Berge selbst erwachten zum Leben, machten riesige Schritte, zerdrückten alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Mit jedem mächtigen Schritt schien die Welt zu erzittern und bebte.
Frostgram. Das kannte er zumindest gut. Das Schwert überschlug sich, als hätte Arthas es in die Luft geworfen. Ein zweites Schwert entstand – lang, plump, dennoch stark, mit dem Symbol eines Totenschädels auf seiner schrecklichen Klinge. Ein Name tauchte auf. »Aschenbringer«, ein Schwert und doch viel mehr als ein Schwert, so wie Frostgram. Die zwei stießen aufeinander…
Arthas blinzelte und schüttelte den Kopf. Die Visionen, die so durcheinander, so chaotisch, so ermutigend und verstörend waren, hatten aufgehört.
Der Orc lachte, der Totenschädel auf seinem Gesicht dehnte sich dabei aus. Einst hatte er Ner’zhul geheißen. Einst hatte er die Gabe besessen, echte Visionen empfangen zu können. Arthas bezweifelte nicht, dass alles, was er gesehen hatte, tatsächlich geschehen würde. Obwohl er noch lange nicht alles verstand.
»So viel mehr«, wiederholte der Orc. »Doch das geschieht nur, wenn du diesem Weg treu bleibst.«
Langsam wandte der Todesritter seinen weißhaarigen Kopf dem Jungen zu. Das kranke Kind schaute ihn aus erstaunlich klaren Augen an. Und einen Moment lang spürte Arthas, wie sich etwas in ihm rührten. Trotz allem – würde der Junge nicht sterben.
Und das bedeutete…
Der Junge lächelte schwach und die Krankheit schwand ein wenig, als Arthas nach Worten suchte. »Du… bist ich. Ihr seid beide… ich. Doch du…« Seine Stimme war sanft, voller Verwunderung und Unglauben. »Du bist die kleine Flamme, die immer noch in mir brennt, die dem Eis widersteht. Du bist das letzte bisschen Menschlichkeit… Mitgefühl, meine Fähigkeit, zu lieben, zu trauern… mich zu sorgen. Du bist meine Liebe zu Jaina, meine Liebe zu meinem Vater… zu allen Dingen, die mich zu dem machten, was ich einst war. Irgendwie hat Frostgram nicht alles genommen. Ich habe versucht, mich von dir abzuwenden… und konnte es nicht. Ich… kann es nicht.«
Die meergrünen Augen des Jungen leuchteten und er warf seinem anderen Ich einen ängstlichen Blick zu. Er bekam mehr Farbe und vor Arthas’ Augen verschwanden einige der Pusteln.
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