»Als Leiter?«
Aegwynn revidierte ihre Einschätzung vom Lehrer der Proudmoore. »Kennt Ihr nicht Meitres Durchdringungsspruch?«
Proudmoore schüttelte den Kopf. »Die meisten von Meitres Schriftrollen wurden vor zehn Jahren zerstört. Ich studierte die, die gerettet wurden. Aber der kommt mir nicht bekannt vor.«
»Traurig«, war alles, was Aegwynn dazu sagte. Es hatte sie nicht interessiert, wessen Barrieren aktiv gewesen waren, so lange sie sie hier sicher hielten. Sie hatte nichts anderes gewollt, als den Rest ihrer Tage weit weg von der Welt zu verbringen, der sie schon so viel Schaden zugefügt hatte.
»Warum seid Ihr so geschwächt?«
Aegwynn seufzte. Sie hätte damit rechnen müssen. Andererseits, Proudmoore musste wohl die ganze Geschichte erfahren. Oder jedenfalls Aegwynns ureigene Version davon...
Vor fünfundzwanzig Jahren
Medivh war in den Turm von Kharazan im Redridge-Gebirge eingezogen, der in Hügel eingebettet lag, nur umgeben von Reben und Unkraut. Die alten Bäume des Waldes von Elwynn schafften es nicht mehr so weit. Sie waren gestorben, nachdem Medivh hier eingezogen war. Der kahle Hügel, auf dem Medivh seine Burg errichtet hatte, war genau wie ein menschlicher Schädel geformt.
Aegwynn fand die Form traurig angemessen. Sie näherte sich dem Ort zu Fuß, sie wollte vermeiden, dass ihr Sohn vorzeitig von ihrem Besuch erfahren könnte.
Die Wächter von Tirisfal waren tot. Orcs zogen brandschatzend durch Azeroth. Krieg war überall auf der Welt ausgebrochen. Und die Quelle all dessen?
Ihr eigen Fleisch und Blut.
Sie wusste nicht, wie das hatte geschehen können. Sie hatte Medivh geboren, damit er ihre Arbeit fortsetzen würde, nicht, um sie zu zerstören.
Erst als sie am Tor eintraf, fühlte sie es. Ihr Sohn war da, das wusste sie, genauso wie Moroes, der Hausdiener, und der Koch. Beide schliefen in ihren Kammern. Aber sie fühlte noch eine andere Präsenz, eine, deren Essenz mit der ihres Sohnes verflochten war. Eine, die sie Jahrhunderte zuvor besiegt hatte.
Sie kümmerte sich nicht weiter darum, sondern wirkte einen Windzauber, der gegen das Tor hieb und orkanartige Kräfte entfesselte, die das Holz in tausend Teile zerschmetterten.
Ihr Sohn stand auf der anderen Seite. Er hatte Aegwynns Größe und ihre grünen Augen geerbt, von Nielas Aran stammten die breiten Schultern und die elegante Nase. Sein graugeflecktes Haar war zurückgebunden zu einem bemerkenswerten Pferdeschwanz, und er hielt seinen Bart sauber gestutzt. Sein kastanienbrauner Umhang wehte hinter ihm in einer Brise. Das Wesen, das vor ihr stand, war unverkennbar ihr Sohn. Doch obwohl ihre Augen Medivh sahen, spürte ihre ganze Magie nur Sargeras.
»Wie ist das möglich? Ich habe Euch getötet .«
Medivh lachte dämonisch. »Mutter, bist du wirklich so eine Närrin? Glaubst du ernsthaft, dass ein einfaches Mädchen eine Macht wie Sargeras vernichten kann? Er benutzte dich. Benutzte dich, um mich zu erschaffen. Er versteckte sich in dir, als du so hingebungsvoll meinen Vater verführt hast, übertrug sein Wesen in meinen Fötus. Er war mein ständiger Begleiter, mein Mentor, der Elternteil, den du mich niemals haben ließest.«
Aegwynn konnte es nicht glauben. Warum war sie nur so blind gewesen? »Du hast den Rat getötet.«
»Hast du nicht immer gesagt, dass sie nur Narren seien?«
»Das ist nicht der Punkt! Sie verdienten es nicht zu sterben!«
»Natürlich taten sie es. Du hast mir nicht sehr viel beigebracht, Mutter. Du warst immer viel zu beschäftigt mit deinen Aufgaben als Wächterin, um tatsächlich den Sohn aufzuziehen, den du in die Welt gesetzt hattest, damit er dein Nachfolger wird. Aber eine Lektion hast du mich gelehrt bei den seltenen Gelegenheiten, zu denen du so gütig warst, dich zu bequemen, meine Existenz zur Kenntnis zu nehmen. Und zwar, dass der Rat aus Narren besteht. Sargeras hat mir schließlich gezeigt, was das endgültige Schicksal aller Narren sein muss. Du siehst, Mutter, ich habe all meine Lektionen gut gelernt.«
»Hör auf, dich zu verstellen, Sargeras«, sagte sie. »Hör auf, mit der Stimme meines Sohnes zu sprechen.«
Medivh warf seinen Kopf zurück und lachte. »Verstehst du nicht, kleines Mädchen? Ich bin dein Sohn!« Er hob seine Hand. »Und ich bin dein Ende.«
Was als Nächstes folgte, passierte viel schneller, als Aegwynn es erwartet hatte. Sie erinnerte sich kaum an die Details, was vielleicht eine Gnade war. Alles, was sie sicher wusste, war, dass sie es schwerer und schwerer hatte, Medivhs – oder besser Sargeras – Sprüche zu kontern, und dass es ihm leichter und leichter bei den ihren fiel.
Geschwächt, zerschunden, blutend brach Aegwynn auf dem Boden zusammen, kaum mehr fähig, den Kopf zu heben. Ihr Sohn stand über ihr und lachte. »Warum schaust du so traurig, Mutter? Ich bin genauso, wie du mich gemacht hast. Immerhin hast du mich geboren, um den Rat zu überlisten und dein Erbe fortzuführen. Das hast du getan. Von dem Augenblick an, da du Sargeras physische Form zerstört und ihn so befreit hattest, dass er in dir leben konnte, war es dein Schicksal, Sargeras Willen zu erfüllen. Nun hast du deinen Zweck erfüllt.« Er grinste. »Ein letzter Dolchstoß in das Auge des Rates, eh?«
Aegwynns Blut gefror zu Eis. Das waren ihre eigenen Gedanken bei Medivhs Empfängnis gewesen. Sie hatte diesen Satz nie laut ausgesprochen und ganz sicherlich niemals gegenüber Medivh. Sie war tatsächlich nur wenig präsent in seinem Leben gewesen. Am Anfang vielleicht und da hauptsächlich zu seinem eigenen Schutz. Sie hatte es sich nicht leisten können, dass bekannt wurde, dass ihr Sohn in Stormwind lebte. Ihre Feinde hätten das gegen sie eingesetzt. Sie offenbarte ihm erst, dass sie seine Mutter war, als er die Pubertät beendet hatte.
In diesem Moment ließ sie jeden Widerstand fallen. Sie wollte nicht länger in einer Welt leben, die sie so nachhaltig betrogen hatte. In ihrem Eifer, ihre Bestimmung zu erfüllen, dem Rat zu beweisen, dass er einen Fehler beging, wenn er sie absetzte, hatte sie den Dämonen zum Sieg verholfen.
Seit dem Ende ihrer Ausbildung hatte Aegwynn nicht mehr geweint. Die Geburt ihres Kindes, der Tod der Eltern, die Niederlagen gegen Dämonen... nichts davon hatte sie zum Weinen gebracht. Sie war immer stärker als das alles gewesen. Doch jetzt rannen Tränen über ihre Wangen, als sie ihren Sohn ansah, der angesichts ihrer Qual lachte.
»Töte mich.«
»Und dich so vom Haken lassen? Sei keine Närrin, Mutter. Ich sagte, das ist dein Ende, nicht dein Tod. Dir das Sterben zu erlauben, wäre keine Buße für das, was du mir alles angetan hast.« Dann murmelte er eine Beschwörung.
Vor acht Jahrhunderten hatte ihr der Rat die Macht der Wächter verliehen. Das war die wunderbarste Erfahrung in ihrem Leben gewesen. Es war so, wie es für einen Blinden sein musste, das erste Mal zu sehen. Als sie die Macht an Medivh übergab, war es weniger wundervoll, aber es gab immer noch das Gefühl der Befriedigung. Das Schwinden ihrer Kräfte war leicht und angenehm gewesen, wie das allmähliche Hinübergleiten in den Schlaf.
Doch jetzt wurde ihr die Macht von Medivh herausgerissen . Es fühlte sich an, wie blind, taub und stumm geschlagen zu werden. Ihr gesamter Körper wurde abgetötet. Es war weniger wie einschlafen, mehr wie ein ins Koma fallen.
Aber sie blieb wach und bekam mit, was passierte. Dann erkannte sie, dass, wenn sie bleiben würde, Medivh, oder eher Sargeras, sie hier behalten würde. Sie müsste in den Gewölben der Burg hausen, ohne Zweifel, um alles, was geschehen würde, sehen und hören zu können. Aufmerksam gemacht auf jede böse Tat, die ihr Sohn in Sargeras Namen beging.
Sie erkannte noch etwas anderes. Sie war immer noch jung. Das bedeutete, dass Medivh ihr nicht die Verjüngungsmagie genommen hatte.
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