Wie Lord Xavius gelacht hatte!
Malfurion hatte anfangs versucht, seinem Kristallgefängnis zu entkommen, aber es widerstand allen Bemühungen. Er hatte versagt . Er hatte sich selbst, seine Freunde, sein Volk … ja, seine Welt im Stich gelassen.
Jetzt bot vermutlich nur noch Lord Ravencrests Armee den Dämonen die Stirn.
Er musste etwas unternehmen.
Malfurion wappnete sich und versuchte noch einmal das umzusetzen, was ihm Cenarius beigebracht hatte. Der Kristall war ein Teil der Natur und somit für seine Zauber empfänglich. Er ließ seine Hände über die Kanten gleiten und suchte nach einer Schwachstelle. Dazu benutzte er etwas Ähnliches wie einen Druidenzauber.
Doch er konnte nichts finden.
Malfurion schrie frustriert auf. Tausende würden seines Versagens wegen sterben. Illidan würde sterben. Brox würde sterben. Tyrande – Tyrande würde sterben.
Er sah ihr Gesicht klarer in seinem Geist als jedes andere. Malfurion stellte sich vor, wie groß ihre Sorge um ihn war. Er wusste, dass sie wahrscheinlich neben seinem Körper saß und darum bemüht war, ihn zurückzuholen. Der gefangene Nachtelf konnte beinahe ihre Stimme hören.
Malfurion …
Der Nachtelf erzitterte. Offenbar begann er bereits, den Verstand zu verlieren. Es überraschte Malfurion, dass dies bereits so frühzeitig geschah, andererseits war seine Situation mehr als prekär und forderte gewiss das Hinübergleiten in den Wahnsinn …
Malfurion – kannst du mich hören?
Erneut glaubte er, Tyrandes Stimme in seinen Gedanken zu hören. Er blickte aus seinem Gefängnis, um herauszufinden, ob Lord Xavius vielleicht versuchte, ihn geistig zu foltern. Aber der Berater war nirgends zu sehen.
Nach langem Zögern erwiderte er in seinen Gedanken schließlich: Tyrande ?
Malfurion! Ich hatte die Hoffnung fast aufgegeben …
Er konnte es kaum glauben. Sie war zwar eine Priesterin der Elune, aber etwas Derartiges hätte auch ihre Fähigkeiten übersteigen müssen. Tyrande – wie hast du mich gefunden ?
Mit Hilfe eines anderen … er sagt, er habe nach dir gesucht.
Die Einzigen, die Malfurion dazu einfielen, waren Rhonin und Brox. Tyrande kannte den Orc jedoch. Und Brox mochte ein tapferer Krieger sein, mit Magie hatte er nichts zu schaffen. Konnte also Rhonin dahinterstecken? Auch das ergab keinen Sinn, war der Zauberer doch angeblich mit Lord Ravencrest fort geritten.
Wer ?, fragte er schließlich. Wer ?
Mein Name ist Krasus.
Der plötzliche Wechsel verstörte Malfurion. Die Stimme klang wie keine, die er je vernommen hatte. Allerdings erinnerte sie ihn ein wenig an Cenarius. Dieser Krasus war auf keinen Fall ein Nachtelf, sondern viel, sehr viel mehr.
Spürst du uns noch ?, fragte die neue Stimme.
Das tue ich … Krasus.
Ich habe Tyrande gezeigt, wie sie die Verbindung zwischen euch nutzen kann, um deinen Geistkörper zu erreichen. Das ist nicht einfach, aber wir hoffen, dass wir es lange genug durchhalten, um dich zu befreien.
Befreien? Malfurion warf einen Blick aufs ein Gefängnis. Er bezweifelte, dass das möglich war.
Ja, das ist eine listige Falle , fuhr Krasus überraschend fort. Anscheinend konnten sie mittels die Verbindung sehen, wo ihn Lord Xavius gefangen hielt. Aber damit habe ich Erfahrung .
Malfurion begann, neue Hoffnung zu schöpfen. Was müssen wir tun ?
Da wir deinen Körper bewegt haben – Ihr habt was getan ? Sie hatten seinen Körper bewegt? Das Risiko war …
Mir sind die Risiken bekannt . Malfurion protestierte nicht weiter, und Krasus fuhr fort: Wir mussten ihn … näher zu einem aus unserer Gruppe bringen. Jetzt hör mir zu, denn es ist nötig, schnell zu handeln .
Der Nachtelf wartete angespannt. Er würde alles tun, was sie sagten, wenn es ihn nur befreite.
Ich muss den Kristall sehen, jeden Aspekt seines Wesens. Du bist ein Druide. Du kannst es mir zeigen.
Malfurion bestätigte, dass er verstanden hatte und studierte das Innere seiner magischen Zelle. Er nahm jede Ecke, jede Facette in Augenschein und zeigte so die Stärken des Kristalls – und seine möglichen Schwächen – auf. Nichts von dem, was er sah, erschien ihm selbst vielversprechend, aber er hoffte, dass Krasus besser wusste, wonach Ausschau zu halten war.
Da! Die körperlose Stimme ließ ihn vor einer Ecke innehalten. Malfurion hatte sie bereits früher genauer untersucht, weil ihm ein winziger Riss aufgefallen war – aber letztlich hatte er nichts damit ausrichten können.
Dies ist der Schlüssel zu deiner Flucht. Berühre ihn mit deinem Geist. Siehst du, was dieser Riss bedeutet?
Er gehorchte. Der Riss war nur ganz fein, aber dennoch hervorstechend.
Krasus befahl Malfurion, die Fähigkeiten einzusetzen, in denen ihn der Waldgott unterrichtet hatte. Damit sollte er die Länge und Breite des Risses ertasten, bis er ihn ebenso gut kannte wie sich selbst.
Jetzt solltest du die Schwachstelle erkennen, den Schlüssel, wenn du willst .
Nein … Doch! Da … ja! Er sah es! Malfurion konnte die Stelle spüren. Er drückte in seinem Drang nach Freiheit fest dagegen, doch der Kristall gab nicht nach.
Du bist stark, aber noch nicht voll ausgebildet. Öffne deine Gedanken. Lass uns hinein, egal, wie viele wir auch sein mögen. Wir werden dich mit unserer Stärke und unserem Wissen unterstützen.
Malfurion öffnete seinen Geist so gut es ging für Tyrande und den mysteriösen Krasus. Er fühlte sofort den Unterschied zwischen beiden. Tyrandes Gedanken waren besorgt, aber entschlossen, während die von Krasus weise, aber auch frustriert anmuteten. Diese Frustration hatte jedoch offenbar nichts mit Malfurions Lage zu tun.
Und jetzt versuche es noch einmal.
Der gefangene Nachtelf stellte sich vor, sein Geistkörper sei real. Er drückte gegen die Schwachstelle, als wäre sie lediglich ein schwaches Hindernis. Wenn er nur kräftig genug drückte …
Plötzlich spürte er, wie ihn die beiden unterstützten. Es war fast so, als stünden sie neben ihm.
Der Riss wurde breiter, länger …
Als der Riss sich erweiterte, entstand eine winzige Lücke.
Das ist deine Tür! , drängte Krasus. Geh hindurch!
Und Malfurions Geistkörper strömte durch die Öffnung hinaus.
Der Nachtelf wuchs, kaum dass er die Falle des Beraters hinter sich gelassen hatte, wuchs, bis er seine normale Größe erreicht hatte. Die Veränderung bezog sich nur auf seine eigene Perspektive, aber sie gefiel ihm wesentlich besser als die insektenartige Sichtweise, mit der er sich als Gefangener hatte begnügen müssen.
Nun … bevor sie dich entdecken … kehre zu uns zurück!
Doch dieses Mal widersprach Malfurion. Er war schon so weit gekommen, um sein Volk zu retten und seine Welt. Der Schildzauber musste gestoppt werden.
Malfurion! , rief Tyrande entsetzt. Nein!
Er ignorierte beide, glitt um eine Ecke … und hielt jäh inne. Lord Xavius stand auf der anderen Seite des Raumes und blickte auf ein dunkles Portal, durch das ununterbrochen Dämonen kamen. Der Berater schien mit etwas zu sprechen, das sich tief im Inneren befand, und Malfurion erschauderte, als er an das Böse erinnert wurde, das er in diesem Tor gespürt hatte.
Die augenblickliche Lage bot ihm jedoch einen Vorteil. Wenn Xavius nur noch ein paar Sekunden länger in diesen Abgrund schaute, konnte Malfurion sein Werk vollenden und sogar noch verschwinden.
Er schwebte zu dem Diagramm, wusste bereits, wie es zu zerstören war. Ein paar leichte Veränderungen würden ausreichen, um den Zauber zu unterbrechen.
Tyrande und Krasus sprachen nicht mehr zu ihm. Entweder hatten sie entschieden, ihn gewähren zu lassen, oder die Verbindung war unterbrochen. Es machte keinen Unterschied, es gab kein Zurück mehr für ihn.
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