Der Offizier der Wache zögerte. Tyrande lächelte ihn an.
»Nun gut … aber ich muss Euch dorthin begleiten.«
»Natürlich.«
Sie drehte sich um und half Krasus, sich zu erheben. Brox unterstützte ihn von der anderen Seite. Aus den Augenwinkeln bemerkte Tyrande, dass der Gefangene versuchte, ein zufriedenes Lächeln zu verbergen.
»Freut Euch etwas?«
»Ja, zum ersten Mal seit meiner ungewollten Ankunft. Es gibt tatsächlich noch Hoffnung.«
Er erklärte nicht, was er meinte, und sie hakte nicht nach. Mit ihrer Hilfe verließ er das Hauptquartier der Stadtwache. Tyrande war sicher, dass er zumindest in einer Hinsicht nichts vortäuschte: Er war tatsächlich sehr schwach, auch wenn sie die natürliche Autorität spürte, die er ausstrahlte.
Jarod Shadowsong blieb hinter ihnen, als sie zum Tempel zurückkehrten. Erneut reichte das Auftauchen des Orcs aus, um sich den Weg zu bahnen.
Tyrande befürchtete, dass die Wachen und die Hohepriesterinnen Probleme bereiten würden, aber auch sie schienen Krasus’ Autorität zu spüren. Die Hohepriesterinnen verneigten sich sogar vor ihm, obwohl sie vielleicht selbst nicht den Grund dafür kannten.
»Elune hat gut gewählt«, bemerkte Krasus, als sie sich dem Wohnbereich näherten. »Das wusste ich sofort, als ich dich sah.«
Ihr Gesicht verdunkelte sich bei seiner Bemerkung, aber nicht, weil sie sich zu Krasus hingezogen fühlte. Tyrande hatte den Eindruck, dass sie ein Kompliment von jemandem erhalten hatte, der mindestens so wichtig wie die Hohepriesterin war.
Sie wollte ihn in einen separaten Raum bringen, betrat jedoch aus Unbedacht den, in dem Malfurion lag. Im letzten Moment wollte Tyrande zurückweichen.
»Gibt es ein Problem?«, fragte Krasus.
»Nein … dieser Raum wird nur für einen kranken Freund benutzt …«
Sie wollte weiter sprechen, aber der Gefangene löste sich aus ihrem Griff und blickte auf Malfurions reglosen Körper.
»Schicksal, Zufall oder Nozdormu, genau so ist es!«, keuchte er. »Was fehlt ihm? Rasch!«
»Ich …« Wie sollte sie es erklären?
»Er durchwanderte den Smaragdtraum«, antwortete Brox. »Er ist daraus nicht zurückgekehrt, Ältester.«
»Nicht zurückgekehrt … wonach hat er gesucht?«
Der Orc erzählte es ihm. Tyrande hätte nicht geglaubt, dass Krasus’ Gesicht noch blasser werden könne, doch genau das geschah. »Ausgerechnet dieser Ort … aber das ergibt leider Sinn. Wenn ich es nur gewusst hätte, bevor ich von dort aufbrach!«
»Ihr wart in Zin-Azshari?«, stieß Tyrande hervor.
»Ich war in den Ruinen der Stadt, aber ich bin hierher gekommen, um nach deinem Freund zu suchen.« Er betrachtete den starren Körper. »Doch wenn er hier bereits seit acht Nächten liegt, könnte es bereits zu spät sein … für uns alle .«
Ein Nachtelf schrie. Brustpanzer und Brustkorb wurden von einer Dämonenklinge gespalten. Ein anderer, der neben ihm stand, erhielt nicht einmal mehr Gelegenheit zu einem letzten Schrei, denn der Streitkolben einer Feiwache zertrümmerte ihm den Schädel.
Überall starben die Verteidiger, und Rhonin hatte bisher nichts unternehmen können, was an dieser schrecklichen Tatsache etwas geändert hätte. Trotz Lord Ravencrests mutigem Einsatz in den vorderen Reihen wurden die Nachtelfen regelrecht abgeschlachtet. Die Brennende Legion gönnte ihnen keine Verschnaufpause, sondern griff unablässig an.
Obwohl der Zauberer wusste, dass er und die anderen sterben würden, kämpfte er weiter.
Was sollte er sonst auch tun?
Die Nachricht vom Eintreffen der Verteidigungsstreitmacht hatte Lord Xavius nicht gelinde überrascht. Am Ausgang der Schlacht hegte er dennoch nicht den geringsten Zweifel. Er beobachtete, wie ein Himmelskrieger des Erhabenen nach dem anderen aus dem Portal trat und war überzeugt, dass keine Armee ihnen lange Widerstand würde leisten können. Bald schon würden die Unvollkommenen aus der Welt getilgt sein.
Mannoroth führte die Legion gegen die Narren an, während Hakkar auf der Jagd war. Der Rest lag in Lord Xavius’ fähigen Händen. Er warf rasch einen Blick in eine Nische in der Nähe des Eingangs. Dort hatte er seine neueste Trophäe abgestellt. Sobald die Verteidiger besiegt waren, würde er sich mit seinem »Gast« beschäftigen. Im Moment allerdings hatte er noch dringlichere Dinge zu erledigen.
Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Portal, wo eine weitere Gruppe von Feibestien auftauchte. Sie erhielt ihre Anweisungen von dem riesigen Wächter der Verdammnis, den Mannoroth zurückgelassen hatte. Dann marschierten die Ankömmlinge ihren blutrünstigen Kameraden entgegen. Immer wieder hatte sich diese Szene in den letzten Minuten wiederholt, und mit jedem Mal wurde die Zahl der Krieger größer. Jetzt füllten sie schon fast den kompletten Raum.
Als der letzte Trupp Feibestien vorbeizog, vernahm Lord Xavius Sargeras’ ruhmreiche Stimme in seinem Kopf. Das Tempo zieht an … ich bin zufrieden .
Der Nachtelf kniete nieder. »Das ehrt mich.«
Es gibt bereits Widerstand.
»Das sind nur einige Unvollkommene, die das Unvermeidliche aufschieben wollen.«
Das Portal muss geschützt werden … es muss offen bleiben und noch weiter verstärkt werden. Bald … sehr bald … werde ich hindurch treten …
Das Herz des Beraters überschlug einen Takt. Der lange erwartete Moment rückte näher!
Er erhob sich und sagte: »Ich werde dafür sorgen, dass Euch der Weg bereitet wird! Das schwöre ich!«
Er spürte eine Welle der Zufriedenheit, dann verließ Sargeras seine Gedanken.
Lord Xavius wandte sich sofort dem Diagramm zu, das den Schildzauber ermöglichte. Er hatte es bereits untersucht, nachdem der Eindringling versucht hatte es zu zerstören, aber man konnte nie gründlich genug sein.
Ja, alles war in bester Ordnung. Xavius dachte an seinen »Gast« und die Dinge, die er tun würde, wenn Sargeras endlich aus dem Portal trat. Die Königin würde sicherlich zugegen sein, außerdem musste eine Ehrengarde organisiert werden. Darum würde sich Hauptmann Varo’then kümmern. Der Berater wollte der Erste sein, der den Himmelsherrscher begrüßte. Als Geschenk, so beschloss Xavius, würde er Sargeras den Kristall mitsamt seinem Inhalt überreichen. Schließlich gehörte er zu den dreien, die Mannoroth für wichtig genug hielt, um den Herrn der Hunde ein zweites Mal auf ihre Spur zu setzen. Wie dumm würde Hakkar aus der Wäsche schauen, wenn er zurückkehrte und feststellen musste, dass der Berater bereits einen von ihnen dingfest gemacht hatte.
Lord Xavius konnte es kaum erwarten, den Gefangenen Sargeras zu präsentieren. Er war neugierig, was genau der Gott mit dem jungen Narren anstellen würde …
Sein Alptraum endete nicht.
Malfurion schwebte in dem Kristall und starrte auf den kleinen Ausschnitt des Raums, den er einsehen konnte. Man hatte ihn auf einem Regal in einer kleinen Nische abgestellt. Dadurch konnte er den Bereich neben der Tür erkennen und den nicht abreißenden Strom von dämonischen Kriegern beobachten, die vorbeizogen und in deren Gesichtern nichts als der Tod geschrieben stand. Das zog ihm das Herz noch enger zusammen, wusste er doch, dass sie jeden Nachtelf erschlagen würden, den sie fanden – und das nur, weil es Malfurion nicht gelungen war, den Schild zu zerstören.
Obwohl seine Umgebung ihm nicht verriet, wie viel Zeit verstrich, glaubte Malfurion, dass seit seiner Gefangennahme mindestens zwei Nächte vergangen waren. In seinem Geistkörper schlief er nicht, was die Zeit noch länger erscheinen ließ.
Wie töricht er gewesen war! Malfurion kannte die Geschichten über Lord Xavius’ Augen, in denen es hieß, sie könnten die Schatten der Schatten erkennen, aber er hatte nie daran geglaubt. Es war ihm nicht in den Sinn gekommen, dass die Augen, die es dem Berater erlaubten, die natürlichen Kräfte der Zauberei zu erkennen, auch dazu benutzt werden könnten, um einen Geist in einem Raum aufzuspüren.
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